447 Spiele mehr als erwartet
Mainz. Die 05-Kalenderblätter* waren ein fester Bestandteil der „nullfünf-Mixed-Zone“, die von August 2014 bis Oktober 2017 über den Mainzer Bundesligisten berichtete. Sie griffen Jubiläen, Besonderheiten und Ergebnisse an den jeweiligen Tagen auf. Heute geht es vor allem um den ersten großen Exzentriker der 05er in diesem Jahrhundert.
21. Juli
Im Sommer 2000 verpflichtete Christian Heidel einen jungen glatzköpfigen Ukrainer, der bereits neunmal in der Bundesliga gespielt hatte, in den sein Klub Borussia Mönchengladbach aber keine großen Hoffnungen mehr setzte: Andrej Voronin. Der damalige Gladbach-Manager Rolf Rüssmann soll die Zukunft dieses Angreifers mal „entweder bei Real Madrid oder in der C-Klasse“ gesehen haben, nach fünf Jahren in der Jugend und der U23 der Borussia eher mit Tendenz zu Letzterem.
Nur 40.000 Euro musste Christian Heidel zahlen, um das Offensivtalent an den Bruchweg zu holen – gegen den Widerstand seines Trainers. René Vandereycken wollte diesen Jungen nicht. Ausschlaggebend für den 05-Manager soll in einem ansonsten miserablen Spiel des Stürmers eine einzige überragende Szene gewesen sein.
Nicht ganz zu Unrecht galt der damals 21-Jährige bei allen seinen Fähigkeiten als fauler, undisziplinierter Charakter. Dass er seine letzte Chance, sich doch noch im Profifußball festzusetzen, so überragend nutzte, muss mit Peter Neustädter zusammenhängen. Der 13 Jahre ältere Innenverteidiger war als Kasache, der in jüngeren Jahren bei Erst- und Zweitligisten diverser Sowjetrepubliken gespielt hatte, für Voronin so etwas wie ein Landsmann und wurde die wichtigste Bezugsperson, eine Vaterfigur.
Neustädter trieb ihm die Flausen aus
Angeleitet vom stummen, asketischen, grundsoliden Neustädter, der dem Bub die Flausen austrieb, und bald von Jürgen Klopp, der ihm als Trainer auf dem Platz alle Freiheiten gab, entwickelte sich Voronin nach einem schwierigen ersten Jahr, in dem er selten eingewechselt wurde, dicke Chancen ausließ und in der Rückrunde wochenlang in der Oberliga spielen musste, zu einem sehr guten Zweitligaspieler. Acht Tore und acht Torvorlagen im zweiten Jahr in Mainz waren ordentlich; Voronin war in dieser überragenden Mannschaft der Saison 2001/02 der einzige Feldspieler, der in allen 34 Spielen dabei war, wenn auch oft nur als Joker. In der internen Torschützenliste lag er gleichauf mit dem jungen Manuel Friedrich hinter Blaise Nkufo und Michael Thurk an dritter Stelle.
Aber verglichen mit dem, was im dritten Jahr passierte, war das noch gar nichts. Nkufo, der Büffel, der große Fixpunkt im Angriff war weg, der Weg in den Vordergrund war frei für den Linksaußen. „Freier Turner“ nannte die Mainzer Rhein-Zeitung den inzwischen 23-Jährigen. Die These, Klopp habe die Mannschaft jede Woche im 4-3-2-plus-Voronin-System auf den Platz geschickt, ist nicht weit weg von der Wahrheit. Der Ukrainer, bullig, aber leichtfüßig, technisch überragend und jederzeit unberechenbar, durfte tun, was er wollte, weil klar war: Was er tut, wird helfen.
Den Union-Fans das 05-Logo gezeigt
Immer noch ein Exzentriker, der privat gern im knallbunten Hawaii-Hemd und mit farblich abgestimmter Sonnenbrille und Stoffhut auftrat, zeigte schon am ersten Spieltag bei Union Berlin, worauf die Saison hinauslaufen sollte. Vielleicht war diese Auftaktpartie der Saison 2002/03 das komplizierteste Auswärtsspiel, das die 05er je erlebt haben. 97 Tage war es her, dass sie im gleichen Stadion unter hässlichen Umständen den Aufstieg verpasst hatten. Die Mittelfinger der Union-Spieler nach ihren Toren und die feixenden Fans waren noch in den Köpfen. Niemand konnte einschätzen, wie die 05-Profis gerade mal drei Monate nach diesem Drama reagieren würden.
Nach 36 Minuten gab es Elfmeter für die Gäste. Direkt vor den tobenden Union-Fans. Andrey Voronin lief an, schoss und traf. Und hielt danach lange das 05-Logo auf seiner Brust der Berliner Fankurve entgegen. „Sie haben drei Monate über uns gelacht“, erklärte der Stürmer nach dem 2:0-Auswärtssieg, bei dem er auch das zweite Tor geschossen hatte. „Jetzt wollte ich ihnen zeigen, dass wir wieder angreifen. Wir sind Mainzer.“
Im weiteren Saisonverlauf ließ Voronin noch 18 Tore folgen. Am Ende war er Torschützenkönig der Zweiten Bundesliga mit zwei Treffern mehr als der Aachener Jupp Ivanovic, der Kölner Matthias Scherz, der Reutlinger Nico Frommer. Und doch sind zwei Tore in Erinnerung geblieben, die Voronin nicht geschossen hat: eines im vorletzten Spiel gegen den VfB Lübeck, was nicht weiter tragisch war. Denn es handelte sich um den berühmten Sololauf von Tamas Bodog: Niclas Weiland hatte den Innenverteidiger an der Mittellinie in die bis auf Bodog und den Torwart leere Lübecker Hälfte geschickt. Der Weg war frei für den Ungarn, aber gefühlte Kilometer weit. Und während Bodog mit mächtigen Schritten aufs Tor zustapfte und schließlich traf, blieb Voronin – so will es zumindest die Legende, und wer sind wir, dass wir an dieser Stelle widersprechen würden? – auf Höhe der Trainerbank stehen und lachte sich kaputt. So etwas hatte er noch nie erlebt.
Zur Aufstiegsfeier gedüst
Das andere Tor, das Voronin nicht schoss, tat weh und ließ ihn zum tragischen Helden werden, weil der Mannschaft letztlich ein Treffer zum Aufstieg fehlte. Und was vergab Voronin in der Schlussphase der letzten Partie in Braunschweig an Chancen! Für die neue Saison hatte er schon bei Aufsteiger 1. FC Köln unterschrieben. Wochenlang hatte er das geleugnet, wohl aus Angst vor der Reaktion seiner Fans. Einige verziehen ihm das auch nicht so schnell.
Trotzdem kam Voronin nie von den 05ern los. Als diese 2004 endlich aufstiegen, brach Voronin wahrscheinlich sämtliche Tempolimits, um zu den Feierlichkeiten nach Mainz zu düsen. Und etwas später, bei einem Gastspiel seines neuen Klubs Bayer Leverkusen in Mainz, wurde er von den Fernsehkameras erwischt, wie er als Ersatzspieler im Bayer-Trainingsanzug auf der Bank „Wir sind nur ein Karnevalsverein“ mitsang.
Gegen Mainz 05 aufstellen konnte man Voronin guten Gewissens nie. Vielleicht brachte er es nicht übers Herz, seinem alten Klub wehzutun. Er war bei fast jedem Verein ein Torjäger, aber immer nur gegen andere Gegner.
Das Blattgold fehlt
2006 stand er kurz vor einer Rückkehr an den Bruchweg, weil er sich aber gerade zwischen zwei Frauen verzettelte und Angst hatte, sein kleines Kind nicht mehr sehen zu können, sagte er im letzten Moment ab. Das dürfte ein Grund für den Abstieg der 05er im folgenden Mai gewesen sein.
Und das ist die Tragik von Andrey Voronin. In seiner langen und großen Karriere, die den drei Jahren in Mainz folgte, war er letztlich nie mehr am richtigen Ort, beim richtigen Verein. In Köln aus irgendeinem Grund gescheitert. In Leverkusen ein sehr guter Bundesligastürmer, aber wie jeder Leverkusener weit weg von jeglichen Titeln. In Liverpool nur die Nummer zwei hinter Fernando Torres. In Berlin, wohin er 2008/09 ausgeliehen war, immer noch ein Torjäger, kurz vor Saisonende noch Tabellenführer der Bundesliga, aber am Ende nicht Deutscher Meister. Mit Dynamo Moskau lediglich Pokalfinalist in Russland. Und bei seinem kurzen Intermezzo bei Fortuna Düsseldorf längst nicht mehr im besten körperlichen Zustand und erneut gescheitert. Die Torjägerkrone in der Zweitligasaison 2002/03 ist Voronins einziger Titel. Seiner Laufbahn fehlt der letzte Glanz, das Blattgold.
Letztlich ist er Mainzer
Im Februar 2015 beendete Voronin seine Karriere wegen anhaltender Rückenprobleme nach 382 Profispielen und 114 Toren in Deutschland, England und Russland sowie 74 A-Länderspielen und 8 Toren für die Ukraine. Das sind 447 Spiele mehr, als ihm manch einer zugetraut hatte. Sein letztes war eine 0:1-Niederlage mit Dynamo Moskau bei Terek Grosny im April 2014, sein letztes Tor der Ausgleich bei einem 3:1 gegen Kuban Krasnodar im Oktober zuvor.
20 Saisontore hat seit seinem Abschied kein 05er mehr geschossen, nicht mal annähernd – aber klar, das war damals die Zweite Liga, wo so etwas einfacher ist als in der Ersten. Den Text vom Karnevalsverein kann Voronin vermutlich immer noch. Denn letztlich ist er Mainzer.
Heute wird er 41 Jahre alt.
Exakt fünf Jahre älter ist Rajko Tavcar. Der Slowene, der seine komplette Karriere in Deutschland – und mit Ausnahme dreier kurzer Stationen in Bayern – verbrachte, sollte 2003/04 als Neuzugang von Wacker Burghausen die linke Abwehrseite der 05er verstärken. Weil aber der von Hannover 96 ausgeliehene Marco Rose wider Erwarten doch gehalten werden konnte, spielte er kaum eine Rolle. Nach sieben Einsätzen in der Zweiten Bundesliga und fünf im Regionalligateam schloss sich Tavcar 2004 der SpVgg Unterhaching an, bei der er 2007 seine Laufbahn beendete. Siebenmal hatte der Linksverteidiger für die slowenische A-Nationalmannschaft gespielt, zuletzt im Gruppenspiel gegen Paraguay bei der Weltmeisterschaft 2002.
Außerdem gewannen die 05er heute vor 28 Jahren mit 1:0 gegen Hansa Rostock. Uwe Diether schoss kurz nach seiner Einwechslung das Tor des Tages.
*Mit freundlicher Genehmigung von Jörg Schneider (nullfünf-Mixed-Zone).
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