„Ich war zum richtigen Zeitpunkt dabei“
Bad Häring. Wer als Journalist derzeit beim FSV Mainz 05 nach konfliktträchtigen Themen sucht, hat es nicht leicht. „Im Moment gibt es nicht viele Baustellen, über die man schreiben könnte“, sagt Stefan Bell. „Die Mannschaft passt, im Verein ist es ruhig, die Kaderpositionen sind geklärt, es gibt keine großen Stinkstiefel.“
Letzteres lässt investigativen Trüffelschweinen zumindest die Hoffnung auf kleine Stänkerer – aber das sind, wie der Innenverteidiger sagt, lediglich mit ihrer Einsatzzeit unzufriedene Spieler. Zumindest während des Trainingslagers in Bad Häring und Schwoich ist das noch kein Thema. „Harmonie pur“, fasst Bell mit leichtem Grinsen zusammen, „das ist beinahe schon langweilig.“
Der 29-Jährige, der als B-Jugendlicher an den Bruchweg kam und 2009 unter Thomas Tuchel Deutscher U-19-Meister wurde, gehört zu den Profis, die lange genug in Mainz spielen, um die Vereinsstrukturen und die handelnden Personen zu kennen. Entsprechend verfolgt er auch die Entwicklungen, die nicht unmittelbar den Bundesligakader betreffen. „Hinter uns liegen einige anstrengende Jahre, in denen es die ganze Zeit über unruhig war“, sagt er.
Gesamtpaket harmonierte nicht mehr
Themen wie die Diskussionen um Aufsichtsrat und Wahlkommission oder die zweimal verschobene Jahreshauptversammlung mit Wahlen tangierten die Profis so gut wie nicht. Die Situation im Herbst vorigen Jahres hingegen sei extrem gewesen und nicht ohne Auswirkungen auf das kickende Personal geblieben – was im Spielerstreik rund um die Suspendierung Ádám Szalais gipfelte und sich letztlich erst mit der Rückkehr Christian Heidels als Sportvorstand und Martin Schmidts als Sportdirektor änderte.
„Zwischen Mannschaft und sportlicher Führung hatte es nicht mehr gepasst“, sagt Bell, was insofern überrascht, als er diese Aussage nicht auf den damaligen Trainer Achim Beierlorzer beschränkt. Von ihm war bekannt, dass er kein nennenswertes Verhältnis zu seinen Spielern aufgebaut hatte. Doch ohne Namen zu nennen, bezieht Bell den im Dezember zurückgetretenen Sportvorstand Rouven Schröder in seine Kritik ein, wenn er sagt: „Ich würde es gerne allgemein halten. Es ist ein Gesamtpaket, das harmonieren muss. Wenn es nicht funktioniert, wenn viele Spieler das Gefühl haben, dass sie mit den Vereinsvertretern nicht mehr gut können, wird es problematisch.“
Von sich selbst überrascht
Die Verpflichtung Bo Svenssons als Cheftrainer im Januar leitete nicht nur die Aufholjagd der Mannschaft, sondern stellte auch eine Wende für Bell persönlich dar. Nach einer langwierigen Sprunggelenkverletzung und eineinhalb Jahren ohne Spielpraxis galt er als ähnlich abgeschrieben wie sein Team als bereits abgestiegen – doch plötzlich stand er wieder auf dem Platz. Mehr noch: Als Abwehrchef wurde er zu einem Garanten der neu entdeckten defensiven Stabilität.
Er sei selbst überrascht gewesen, wie gut er dies körperlich weggesteckt habe, räumt Bell ein. Immerhin warf Svensson ihn zu Beginn einer englischen Woche ins kalte Wasser – und vom 16. bis zum 30. Spieltag stand er durchgehend in der Anfangsformation, in den meisten Fällen über die volle Distanz.
Die Umstände seien ihm entgegengekommen, sagt er. Die Umstellung von Vierer- auf Dreierkette, in der er die schnellen Jeremiah St. Juste und Moussa Niakhaté an seiner Seite hatte, die grundlegend andere, offensiver und aggressiver ausgerichtete Spielweise, die gegenüber der Hinrunde im Schnitt fünf personellen Veränderungen in der Stammelf, die jetzt wieder intakte Mannschaft: „Es haben viele Sachen gepasst, und das Momentum kam hinzu. Ich war zum richtigen Zeitpunkt dabei.“
Neuerungen als Schlüssel
Die zahlreichen Neuerungen nennt Bell als Schlüssel zur sensationellen Aufholjagd. Dass es gelang, die taktischen Veränderungen, Svenssons Ideen ohne jegliche Vorbereitung so schnell und gut umzusetzen, gehörte zu den außergewöhnlichen Aspekten der Rückrunde mit 32 Punkten. „Was man sonst über sechs Wochen macht, haben wir im laufenden Spielbetrieb nebenbei umgestellt. Das war eine Herausforderung.“
Aus der Tatsache, dass die 05er diese Herausforderung gemeistert haben und ihnen jetzt tatsächlich sechs Wochen zur Verfügung stehen, in denen sie ihre Abläufe weiter verfestigen können, dürfe man freilich keine überzogenen Erwartungen ableiten. „Niemand sollte damit rechnen, dass wir in der neuen Saison 60 Punkte holen“, betont Bell. „Man darf nicht vergessen, dass wir nichts zu verlieren hatten und in einen Flow geraten sind. Alle unsere Siege waren knapp, wir haben kein Spiel mit mehr als einem Tor Unterschied gewonnen. Und die Dreier gegen unsere direkten Konkurrenten Bremen und Köln waren sehr schmeichelhaft.“
Erfreut über Vertragsverlängerungen
Eine Aufgabe für die neue Spielzeit sei es, kein „Es wird schon“-Gefühl aufkommen zu lassen. Nicht den Blick nach hinten zu richten, sondern sich bewusst zu sein, dass einer erfolgreich verlaufenden Saison intensive Arbeit zugrunde liegen müsse. Momentan habe er den Eindruck, dass alle Spieler mit dieser Einstellung bei der Sache seien – und Bo Svensson und sein Trainerteam erwecken nicht den Eindruck, als böten sie dem Schlendrian eine Chance, Einzug zu halten.
Erfreut zeigt sich der Routinier über die diversen Vertragsverlängerungen in der Zeit nach dem Ende der vorigen Saison. „Nachdem voriges Jahr wegen Corona fast nichts passiert ist, wären jetzt viele Verträge ausgelaufen oder hätten nur ein Jahr Restlaufzeit gehabt. Es sind viele gute Entscheidungen getroffen worden, die dazu beitragen, dass die Mannschaft zum Großteil zusammenbleibt“, nennt er beispielsweise Jonathan Burkardt, Leandro Barreiro, Alexander Hack und Karim Onisiwo.
Viel Gedränge in der Innenverteidigung
Bell hat ebenfalls verlängert. Bis 2023, doppelt so lang wie vor einem Jahr. „Kürzer ging ja nicht“, merkt er lakonisch an, „Halbjahresverträge sind nicht üblich…“ Als Kritik formuliert er es nicht, dass Rouven Schröder ihm im Sommer 2020, nachdem sein alter Kontrakt bereits abgelaufen war, nur ein weiteres Jahr anbot. „Das war sinnvoll, weil weder ich noch der Verein wussten, ob ich nach der Verletzung noch mal auf mein altes Niveau komme. Und der Verein wusste nicht, wie es finanziell weitergeht. Das waren so viele Ungewissheiten, dass es am besten war, ein Jahr zu überbrücken und dann zu schauen, wie es aussieht.“
Gut sah es aus. Die jüngsten Gespräche seien innerhalb von zwei, drei Wochen über die Bühne gegangen. „Das ist für Vertragsverhandlungen relativ schnell – die können sich auch über Monate ziehen.“
Mit ihm, Niakhaté, St. Juste, Hack sowie den beiden jungen David Nemeth und Luca Kilian stehen derzeit sechs Innenverteidiger im Kader, schätzungsweise einer zu viel. „Was die Breite angeht, ist das für den Verein eine Luxussituation“, sagt Stefan Bell. Der Konkurrenzkampf, der dadurch entsteht („Natürlich ist Druck da“), sei für ihn allerdings nichts Neues. „Ich hatte schon während der vorigen Saison den Zweikampf mit Hacki.“