Der Mann, der nicht mehr wollte
Mainz. Die 05-Kalenderblätter* waren ein fester Bestandteil der „nullfünf-Mixed-Zone“, die von August 2014 bis Oktober 2017 über den Mainzer Bundesligisten berichtete. Sie griffen Jubiläen, Besonderheiten und Ergebnisse an den jeweiligen Tagen auf. Heute geht es unter anderem um einen, der länger dabei ist als Stephan Kuhnert, um einen Trainer, der Maßstäbe setzte, und um einen chilenischen Pazifisten.
29. August
Einer der dienstältesten 05er wird heute 60 Jahre alt: Michael Schmitt. 1985, in einem der besten Mainzer Transfersommer, kam er als einer von vielen ehemaligen Nachwuchsspielern des 1. FC Kaiserslautern, die in jener Zeit im Südwestfußball unterwegs waren, an den Bruchweg und ist 35 Jahre später immer noch im 05-Trikot am Ball. Als junger Oberligaspieler war „Schmitti“, zuvor für Südwest Ludwigshafen und Hassia Bingen aktiv, ein sehr guter Rechtsverteidiger: bissig, kompromisslos, aber auch ein guter Fußballer.
Schmitt kam im selben Sommer wie Hendrik Weiß, Micky Becker, Michael Müller und dem Rückkehrer Charly Mähn – fünf Mann, die teils bis weit in die 1990er Jahre hinein zu den Stützen jener Mannschaft zählten, die zweimal den Aufstieg in die Zweite Bundesliga bewerkstelligten und die 05er schließlich dort etablierten. Mehr als 1200 Pflichtspiele absolvierte dieses Quintett in der Summe für die Mainzer, und es wären mehr geworden, hätten nicht zwei von ihnen ihre Karriere wegen schwerer Verletzungen vorzeitig aufgeben müssen.
Totalschaden im Knie
Mähn schied 1991 aus, Schmitt bereits Anfang Mai 1989 nach einem Totalschaden im Knie: Kreuzband-, Innenband- und Meniskusriss. Was heute noch eine schlimme Nachricht für jeden Fußballer, aber noch nicht zwingend das Karriereende ist, war damals irreparabel. Schmitt war nicht der einzige schwer verletzte Mainzer Leistungsträger in jener Saison: Torjäger Norbert Hönnscheidt konnte nach einem dreifachen Bänderriss erst ab Oktober spielen, Schorsch Müller verpasste wegen Adduktorenproblemen die komplette Rückrunde, Patrick Mohr fehlte nach einem Knöchelbruch von Anfang März bis in den Juni, Micky Becker musste eine Woche vor Schmitt die Saison mit angerissenem Kreuzband vorzeitig beenden.
Da außerdem manche Spieler (auch Schmitt) berufsbedingt immer nur am Abschlusstraining teilnehmen konnten und neben Charly Mähn ein weiterer Torjäger fehlte, hatte das Team in der Zweiten Liga keine Chance. Das zweite, das erfolgreiche Comeback erlebte Schmitt nicht mehr auf dem Platz; aber heute noch spielt der Verteidiger für die Traditionself.
47 Jahre alt wird einer der wichtigsten Trainer, die die 05er je hatten: Thomas Tuchel.
Tuchel kam 2008 aus dem Nachwuchs des FC Augsburg nach Mainz und wurde auf Anhieb mit der U19 Deutscher Meister – im Finale gewann das Team um André Schürrle, Jan Kirchhoff und (den in der Endrunde verletzten) Stefan Bell 2:1 gegen Borussia Dortmund. Als Manager Christian Heidel vor dem ersten Spieltag der folgenden Saison Cheftrainer Jörn Andersen feuerte, wurde Tuchel zur allgemeinen Überraschung der Nachfolger des Norwegers.
Und er etablierte die Rheinhessen nicht einfach nur in der Bundesliga, sondern erstaunlich weit oben in der Tabelle. Im zweiten Jahr stellte seine Mannschaft den Startrekord von sieben Siegen in sieben Spielen ein und wurde schließlich Fünfter, zweimal qualifizierte Tuchel sich mit dem taktisch ungeheuer flexiblen Team für internationale Pflichtspiele.
Im Unfrieden geschieden
Vor allem aber galt der oft verkopfte, emotional selten durchschaubare Intellektuelle als Garant für das Geschäftsmodell der 05er, junge Talente günstig zu verpflichten und als überdurchschnittliche Bundesligaprofis für viel Geld zu verkaufen – nach dem Musterbeispiel Schürrle brachten auch Anthony Ujah, Eugen Polanski (der mal erzählte, man brauche Abitur, um Tuchels Trainingsinhalte zu verstehen), Adam Szalai (der nirgends mehr so effizient spielte wie in Mainz), Nicolai Müller, Shawn Parker, Sebastian Polter, Ja-Cheol Koo, Johannes Geis, Joo-Ho Park und Shinji Okazaki ordentlich Geld aufs Konto; auch Julian Baumgartlinger hätte es ohne Tuchel möglicherweise nicht nach Leverkusen geschafft.
Tuchel verließ den Verein ein Jahr vor Vertragsende im Unfrieden – weil er für sich beschlossen hatte, das Team nicht mehr weiterentwickeln zu können. Christian Heidel sperrte ihn quasi fürs letzte Vertragsjahr, danach trat Tuchel bei Borussia Dortmund die Nachfolge von Jürgen Klopp an. Die Mannschaft, die im letzten Jahr unter Klopp die Saison verpatzt hatte, lange auf den Abstiegsplätzen stand, sich aber immerhin noch auf den siebten Rang rettete, saß wieder den Bayern im Nacken.
Champions-League-Finale gegen Bayern verloren
Im Frühjahr hätte der BVB den Serienmeister, der gerade gegen die 05er verloren hatte, ernsthaft angreifen können, doch im direkten Duell gab es nicht den erhofften Sieg, sondern ein 0:0. Auch das erste Pokalfinale und den Supercup verlor der Tüftler gegen die Bayern. Im zweiten Jahr schlug Tuchel die Münchener im Halbfinale und gewann den Pokal. Unter den bei ihm nicht ganz ungewöhnlichen mysteriösen Umständen wurde er trotzdem gefeuert – das Binnenklima beim BVB war wohl ohnehin schon ruiniert, der Anschlag auf den Mannschaftsbus nur der Auslöser für die endgültige Eskalation.
Tuchels kantige, kühle, mechanische Mentalität half ihm im Machtkampf gegen seinen Chef Watzke und gegen die Meinungsführer in der Mannschaft nicht. Nach einem erneuten Jahr Pause übernahm er mit seinem aus der Mainzer Zeit vertrauten Trainerteam, zum dem Arno Michels, Reiner Schrey und Benni Weber gehören, Paris St. Germain. Im ersten Jahr wurde er französischer Meister, im zweiten auch – und zog ins Champions-League-Finale ein, in dem PSG gerade erst dem FC Bayern mit 0:1 unterlag.
Gonzalo Alejandro Jara Reyes wird 35 Jahre alt.
Der Chilene, den Trainer Kasper Hjulmand als „Krieger“ angekündigt hatte, der aber eher auftrat wie ein Pazifist, spielte eineinhalb Jahre für die 05er, bis er im Winter 2015/16 über Nacht in die Heimat zurückwechselte.
Kurz vor und nach seinem Wechsel vom englischen Zweitligisten Nottingham Forest nach Mainz war Jara zweimal die tragische Figur in einem Elfmeterschießen: Beim chilenischen WM-Aus gegen Brasilien im Achtelfinale und beim Mainzer Pokal-Erstrundenspiel in Chemnitz verschoss der Verteidiger. In seinen folgenden 17 Bundesligaspielen wirkte der auf allen Abwehrpositionen eingesetzte Jara hin und wieder defensiv etwas leichtsinnig; im Spielaufbau zeigte er nicht nur bei der überragenden Einleitung des 2:0 gegen den SC Paderborn am 18. Spieltag überdurchschnittliche Fähigkeiten.
Dennoch legten die 05er dem Chilenen schon vor seiner unsportlichen Begegnung mit dem Uruguayer Edinson Cavani bei der Copa América, derentwegen Jara fürs restliche Turnier gesperrt wurde, einen Vereinswechsel höflich nahe. Zwar gelang ihm im Laufe der Hinrunde ein kaum erwartetes Comeback und wurde im defensiven Mittelfeld noch einmal wertvoll für die Mannschaft, aber als er im Winter aus nie so ganz öffentlich gewordenen Gründen nach Chile wollte, wurde ihm das auf kurzem Dienstweg ermöglicht. Bis 2018 spielte Jara für den Club Universidad de Chile, danach in Argentinien für die Estudiantes de La Plata und im Frühling 2020 für den anschließend aufgelösten CA Monarcas Morelia in Mexiko.
39 Jahre alt wird Christopher Umbs, der von April 1999 bis zu einer schweren Verletzung Anfang des nächsten Jahres 22-mal für die 05-Amateure in der Oberliga spielte und danach noch lange im höheren Amateurfußball des Rhein-Nahe-Gebiets, vor allem bei der SpVgg Ingelheim, unterwegs war.
Konstantin Stengel, 2003/04 der erste 05-Torwart in der U-19-Bundesliga, später Oberligakeeper in Bad Kreuznach, Hauenstein und Mechtersheim, wird 35 Jahre alt. Inzwischen ist er Trainer des Landesligisten Viktoria Herxheim.
*Mit freundlicher Genehmigung von Jörg Schneider (nullfünf-Mixed-Zone).
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