Fast schon eine Sensation
Mombach. Dieses Ergebnis hätte in der Ringerszene kaum jemand für möglich gehalten. „Natürlich wäre es besser gewesen, wenn wir gewonnen hätten“, sagte Wladimir Remel, der Kapitän des ASV Mainz 88 nach dem 12:12 gegen den SV Wacker Burghausen. „Aber wir haben gezeigt, dass wir verdient im Finale stehen. Das hat uns doch niemand zugetraut.“
Und mehr noch als die Genugtuung über die Aussagen vieler Fans und Experten wiegt: Der Ausgang des ersten Finalduells in der mit 1400 begeisterten Zuschauern prall gefüllten Mombacher Sporthalle „Am Großen Sand“ (→ „Finale daheem – was will man mehr?“) lässt im Kampf um die Deutsche Meisterschaft alles offen.
„0,0 Chancen“ hätten die Mainzer, hatte ein Ringsportfan in einem sozialen Netzwerk gepostet, nachdem sich die 88er im Halbfinale gegen den ASV Schorndorf durchgesetzt hatten. Und von einem Vereinsmitglied der unterlegenen Schwaben kam die entspannte Reaktion, grundsätzlich sei es ja egal, wer ins Finale einziehe – Burghausen gewinne sowieso. Doch auf solche Ansagen folgte eine Begegnung auf Augenhöhe, ein Kampf zweier gleichwertiger Mannschaften. Fast eine Sensation.
Zwei Klassen abgegeben
Die 88er hatten eine starke Auswahl auf die Matte gestellt. Trotz des zur gleichen Zeit stattfindenden Dan-Kolov-Turniers in Bulgarien und des in der nächsten Woche anstehenden Yasar-Dogu-Turniers in der Türkei, zwei hochrangigen und vor der Europameisterschaft im März enorm wichtigen internationalen Wettkämpfen, war es ihnen gelungen, ihr Ausländerkontingent voll auszuschöpfen.
Dennoch wurde deutlich, dass die Burghausener über den breiteren Kader verfügen, insbesondere bei den deutschen Athleten. Die Mainzer mussten zwei Klassen leerlaufen lassen, um das Limit von 28 Ringerpunkten nicht zu überschreiten. Die Eigengewächse Fabian Pelzer und Josif Shahbazyan, der nicht nur eine Gewichtsklasse ins Weltergewicht aufrückte, sondern auch stilartfremd im Greco antrat, drückten die Summe auf 26 Zähler, waren aber vorhersehbar chancenlos.
Solche Löcher taten sich bei den Gästen nicht auf. Sie brachten zehn Ringer mit Siegchancen auf die Waage. Selbst Witalis Lazovski, der einzige Burghausener, der technisch überhöht verlor, war gegen Kristupas Sleiva alles andere als ein Zählkandidat. Sechs seiner acht bisherige Saisonkämpfe hatte er gewonnen, die beiden anderen nicht höher als 0:2 verloren und eine beachtliche Ausbeute von 19:4 Punkten zu den Mannschaftsergebnissen beigetragen.
Bichinashvili nimmt Ali in Schutz
Die Tatsache, dass die Mainzer quasi von vorneherein 0:8 zurücklagen, macht das Unentschieden noch beachtlicher und wertvoller. Möglich wurde das nur, weil fast alle ihre Athleten in Sieg und Niederlage das Beste herausholten.
Die einzige Ausnahme bildete dem Augenschein nach Elcin Ali, der anderthalb Minuten vor Schluss die Wertung zum 7:0 holte, sich in der verbleibenden Zeit aber nicht ernsthaft darum bemühte, den zum Dreipunktesieg notwendigen letzten Zähler zu erringen. „Sein Gegner war sehr passiv, dann ist es auch nicht einfach“, nahm Cheftrainer Davyd Bichinashvili ihn in Schutz. „Elcin hat bis zum Schluss alles gegeben.“
Wer holte die Mainzer Big Points?
Zuvorderst ist Etka Sever zu nennen. Vor zwei Jahren hatte er im Greco-Schwergewicht zwar schon einmal gegen Ramsin Azizir gewonnen, im Rückkampf eine Klasse tiefer allerdings verloren. Das Duell galt somit als vollkommen offen. Die Marschroute des Burghauseners am Samstagabend war offensichtlich. Er ging die erste Runde gemächlich an, nahm bereitwillig die Passivitätsverwarnung in Kauf, gestattete Sever aber im Bodenkampf keine weitere Wertung.
Nach der Pause hingegen machte Azizir mächtig Betrieb und forcierte damit, dass auch der 88er in die Bodenlage musste und beim 1:1 wegen der letzten Wertung in Rückstand lag. „Eigentlich ist seine Taktik aufgegangen“, sagte Sever hinterher. Für ihn war es noch schlimmer gekommen, denn Azizir gelang ein Durchdreher zum 3:1. „In dem Moment hat er wohl gedacht: ,Das war’s‘“, sagte Sever. „Und ich wusste, dass ich eine Aktion aus dem Stand machen muss.“
Da die beiden einander seit 15 Jahren kennen und gemeinsam am Leistungszentrum in Heidelberg trainieren, war das ein nahezu unmögliches Unterfangen. Sever arbeitete, schob seinen Kontrahenten über die Matte und versuchte, irgendwie durch dessen Deckung zu kommen, um einen Ansatzpunkt zu finden.
Sleiva erntet Standing ovations
Azizir näherte sich dem Rand der Kampfzone. „Ich wusste, ihn rauszuschieben bringt nichts“, sagte Sever, damit hätte er den Rückstand nur verkürzt. Selbst wenn ihm das zweimal gelungen wäre, hätte sein Gegner dank der höheren Wertung noch geführt. Doch in der Bewegung aus dem roten Kreis heraus, gelang dem 88er der entscheidende Griff. „Beim Rausschieben bin ich durchgekommen“, kommentierte er den Takedown, der ihm beim 3:3 den Sieg brachte. „Das war ein guter Tag für mich.“
Das Optimum holte auch Sleiva heraus. Drei Punkte hatte Bichinashvili fest eingeplant, dass es vier werden könnten, war nur eine vage Hoffnung. Nach einer Minute brachte der Litauer seinen Gegner mit einem Wurf kurz in die gefährliche Lage und legte gleich eine zweite Viererwertung nach.
Da Lazovski nur noch auf Schadensbegrenzung aus war, kassierte er die logische Passivitätsverwarnung, Sleiva erledigte im Bodenkampf den Rest. „Jetzt geht’s los“, skandierten Zuschauer auf der rechten Zusatztribüne, die ahnten, was kommen würde. Sekunden später federte es die Mainzer Fans regelrecht aus ihren Sitzen – denn Sleiva ließ einem Durchdreher einen großen Wurf folgen, der mit einer Fünferwertung belohnt wurde und nach zwei Minuten das vorzeitige Ende bedeutete. „Das war überragend“, lobte Bichinashvili. „Kristupas ist ein Sieggarant, er hat einen sehr schönen Kampf gezeigt.“ Zum Dank gab’s Standing ovations.
Rybicki erkämpft einen Punkt zurück
Alles andere als selbstverständlich waren Timur Bizhoevs drei Mannschaftspunkte gegen den stark verteidigenden Eduard Tatarinov holte; zur Pause führte er 88er lediglich mit 2:0. Erst in der letzten Minute erhöhte Bizhoev mit seiner ersten Zweierwertung auf 7:0, die Passivitätsbestrafung gegen Tatarinov zum erlösenden 8:0 wurde 29 Sekunden vor Schluss ausgesprochen. Dass der 88er auf den letzten Drücker einen Takedown zum 10:0-Endstand nachlegte, sicherte die drei Punkte nur noch ab.
Doch auch in Niederlagen kann man Punkte gutmachen, wie Kamil Rybicki bewies. Der fünf Kilo leichtere, aber enorm schnelle Iszmail Muszukajev bereitete ihm im Freistil-Weltergewicht zunächst enorme Schwierigkeiten. Der Burghausener bekam fast spielerisch leicht seine Beinangriffe durch und führte nach viereinhalb Minuten 11:2.
Muszukajev steuerte stramm auf drei Mannschaftspunkte zu, hätte sogar vorzeitig gewinnen können, wäre er in diesem Tempo weitermarschiert. Doch der Burghausener hatte sich verausgabt, rang nach Luft. Rybicki nutzte die Chance und verkürzte mit je einer Zweier- und Vierwertung auf 8:11. Um den Kampf vollends zu drehen, fehlte zwar die Zeit, doch er hatte einen Punkt zurückgeholt und damit letztlich eine Mainzer Niederlage verhindert.
Wo blieben Punkte liegen?
„Alle haben von der ersten bis zur letzten Minute gekämpft“, sagte Bichinashvili. „Aber klar hätte der eine oder andere Kampf besser laufen können.“ Elcin Alis Genügsamkeit gehörte dazu, auch wenn der Trainer das nicht bestätigen wollte. Keine Vorwürfe brauchte sich Alexander Semisorow zu machen, obwohl auch ihm beim 7:0 gegen Vladimir Egorov nur eine Wertung zum dritten Mannschaftspunkt fehlte.
„Es war schwierig, weil mein Gegner klein und international erfahren ist“, sagte er später. „Er hat versucht, so wenige Punkte wie möglich abzugeben.“ Mit dem ausgestreckten Arm zum Semisorows Kopf hielt sich der Burghausener den Mainzer vom Leib und befand sich sechs Minuten lang auf der Flucht. Vier Punkte gab Egorov in Aktivitätszeiten und bei zusätzlichen Passivitätsverwarnungen ab, nur einmal brachte Semisorow ihn zu Boden, einmal schob er ihn aus der Kampfzone.
Mehr als ein 7:0 war mit diesen kleinen Wertungen kaum zu holen, zumal dem 88er am Ende nicht nur der Kontrahent, sondern auch die Zeit weglief. „Ich habe alles versucht“ sagte er 88. „Aber 15 Sekunden vor Schluss hat er mir, sicher nicht mit Absicht, ins Auge gegriffen.“ Leicht gehandicapt brachte Semisorow keinen Angriff mehr durch.
Reihenfolge der Verwarnungen entscheidet
Letztlich waren es die offenen Kämpfe, die den ASV den Sieg kosteten. Drei solcher Duelle hatte Bichinashvili ausgemacht, nur Sever gewann eines davon, Wladimir Remel und Mateusz Wolny dagegen unterlagen knapp.
In Wolnys Duell mit dem Ex-88er Roland Schwarz fielen keine technischen Wertungen, beim 1:1 entschied die Reihenfolge der Passivitätsverwarnungen zugunsten des Burghauseners. Wolny bekam sogar ein zweites Mal die Chance als Obermann im Bodenkampf, doch in diesem Bereich hat er noch Verbesserungsbedarf, wie schon vorangegangene Kämpfe zeigten.
Remel konnte man nicht viel vorwerfen, sein Gegner Sven-Erik Thiele war immerhin 2018 EM-Dritter im Freistil-Halbschwergewicht. Der Mainzer haderte dennoch mit seiner 2:4-Niederlage. „Für mich gab es nur eine Option: gewinnen“, sagte Remel. „Erik ist mein größter Konkurrent in Deutschland. Wenn ich noch höher hinaus will, muss ich ihn bezwingen.“
Remel hadert mit kleinem Fehler
Einstellung und Feuer stimmten, seine Attacken aber hätte er besser setzen und konsequenter durchziehen müssen, analysierte Remel. Seine 2:0-Pausenführung bröckelte. Noch verschmerzen ließ sich Thieles Anschlusspunkt durch eine nicht genutzte Aktivitätszeit, erst als Remel mit Beinangriffen seinen Vorsprung ausbauen wollte, kippte der Kampf. Zum 2:2 und damit zur Führung schob Thiele ihn von der Matte, den zweiten Griff des 88ers zu den Beinen nutzte der Burghausener zum Takedown. „Erik ist sehr stabil und macht kaum Fehler“, räumte Remel ein. „Er hat seine Punkte mit Kontern gemacht.“ Bichinashvili ergänzte: „Ein kleiner Fehler hat Wladi den Kampf gekostet.“
Ein unvergessliches Erlebnis war die Begegnung aber für alle in der Halle. „Es war geil, nach zwei Jahren wieder einmal vor einem so großen Publikum zu ringen“, sagte Semisorow. Bichinashvili stattete den Fans seinen Dank für die lautstarke Unterstützung ab. „Es war wie in alten Zeiten. Die Zuschauer waren unser elfter Mann.“
Das 12:12 lässt den Mainzern auch noch alle Chancen, zum vierten Mal Deutscher Meister zu werden. „Alles bleibt offen“, sagte Bichinashvili. „Nächste Woche versuchen wir, einen Punkt mehr zu holen.“ Remel teilt die Zuversicht seines Trainers. „In Burghausen ist alles drin.“
Zur freien Bildergalerie: → Schwellköpp, Spannung und Standing ovations.