„Mit 95 Prozent gewinnen wir keine Spiele“
Aus dem Trainingslager des FSV Mainz 05
berichtet Peter H. Eisenhuth.
Hopfgarten. Seit Januar 2021 spielt Dominik Kohr für den FSV Mainz 05. Zunächst für eine halbe Saison von Eintracht Frankfurt ausgeliehen, war der defensive Mittelfeldspieler ein wichtiger Baustein der historischen Aufholjagd unter Trainer Bo Svensson.
Inzwischen hat der 30 Jahre alte gebürtige Trierer, der auch schon für Bayer Leverkusen und den FC Augsburg aktiv war, 100 Bundesligaspiele im 05-Trikot absolviert – zuletzt als Innenverteidiger. Im Mainzer Trainingslager sprach SPORTAUSMAINZ.de mit Kohr.
Herr Kohr, Mainz 05 hat im Trainingslager beim Mittagessen die Gleitzeit eingeführt…
…ja, aber nur beim Mittagessen. So kann jeder, der nach dem Training noch ins Kältebecken gehen möchte oder beim Duschen ein bisschen länger braucht, ganz entspannt zum Essen kommen. Sonst wird das manchmal schon hektisch.
„Ein bisschen länger“ ist vielleicht ein gutes Stichwort: Wie lange haben Sie gebraucht, um die vorige Saison aus dem Kopf zu kriegen und zu entspannen?
Wir hatten sechs Wochen frei, und ich habe diese sechs Wochen gebraucht. Es war eine intensive Saison mit dem glücklichen Ende, dass wir auch nicht in die Verlängerung mussten. Zeitweise waren wir schon in einer Situation, in der wir nicht wussten, wie es weitergeht, wie es am Ende aussehen würde. Deshalb habe ich die Pause gebraucht, um neue Energie zu tanken. Und jetzt freue ich mich auf die nächste Saison.
War das unterm Strich noch anstrengender als die Rückrunde 2020/21 unter Bo Svensson, als ihr zwar einen größeren Rückstand aufholen musstet, aber auch mehr Spiele hattet als mit Bo Henriksen und schon zwei Spieltage vor Schluss sicher wart?
Ja, das war schon etwas anders. Damals bin ich ja erst im Winter gekommen, und ich hatte das Gefühl, dass wir relativ schnell die Punkte holen. Wir sind ja auch in einen guten Lauf gekommen. In der letzten Saison haben wir in vielen guten Spielen nicht gepunktet oder nur Unentschieden gespielt, dadurch sind wir in einen Strudel geraten, aus dem wir nicht mehr rauskamen. Der Trainerwechsel zum aktuellen Bo war mal wieder ein Glücksgriff von Mainz 05. Mit ihm haben wir neuen Mut bekommen, das zu machen, was wir können. Wir haben wieder an uns geglaubt, und so sind wir aus den letzten neun Spielen ohne Niederlage herausgegangen…
…und trotzdem stand es bis zum letzten Spieltag auf der Kippe.
Genau, aber wir hatten nach dem Trainerwechsel das Gefühl, dass wir es aus eigener Kraft schaffen können. Wir hatten auch eine positivere Tendenz als die Konkurrenten. Bei denen hat die Kraft früher nachgelassen, wir waren nach 90 Minuten längst nicht am Ende und hätten noch weiterspielen können. Mit 2021 kann man es nicht so ganz vergleichen, weil es punktemäßig anders lief – und dadurch, dass damals die Stadien wegen Corona noch leer waren, war sowieso alles anders.
Was hat denn Bo Henriksen mit euch gemacht?
Er hat uns einfach den Glauben an uns zurückgegeben. Wir durften Fehler machen, ohne einen aufs Dach zu kriegen. Wir sollten die Fehler als Team ausbügeln, mutig sein, uns was zutrauen. Und er hat uns die Siegermentalität zurückgebracht. Teilweise war es vorher so, dass man sich nur ein bisschen geärgert hat, wenn in einer Situation etwas nicht funktionierte. Jetzt hat man schon in den kleinsten Spielformen im Training gemerkt, dass das Feuer zurück war, alle haben sich bei den internen Spielen über Siege riesig gefreut, und die anderen haben sich richtig geärgert. Dass in solchen Momenten Siegerfotos gemacht werden, spricht für die Mentalität, die in uns steckt.
Den Eindruck kann man auch jetzt gewinnen, dass ihr in den Einheiten viel mehr Spaß habt als in früheren Trainingslagern. Jedes Tor wird gefeiert…
…auch um die anderen zu kitzeln. Alle versuchen in jedem Training 110 Prozent zu geben, so kommen wir an unser Limit. Wir haben alle die Lehren aus der vorigen Saison gezogen und wissen, dass wir die Spiele nicht mit 90 oder 95 Prozent gewinnen können. Diese Siegermentalität muss man schon ins Training einbringen, damit es in den Spielen klappt. Wenn man es unter der Woche nicht bringt, wird es auch am Wochenende schwer. Keiner verliert gerne…
…heute haben sich die Alten im Abschlussspiel revanchiert?
Genau, gestern haben wir die jungen Spieler mal machen lassen, damit sie auch mal was gewinnen, und heute gab es die Revanche. (lacht)
Wann hat sich bei Ihnen die Vorfreude auf die Saisonvorbereitung eingestellt?
Es ist ja so, dass man in den sechs Wochen abschaltet, in den Urlaub fliegt, andere Sachen unternimmt als während einer Saison. So nach zwei, drei Wochen kam die Lust aufs Kicken wieder auf, ich habe den Ball vermisst. Trotzdem war es für den Kopf wichtig, andere Sachen zu machen.
Hatten Sie eine komplett fußballfreie Zeit, oder haben sie die Europameisterschaft intensiv verfolgt?
Im Stadion war ich nicht, die Zeit habe ich lieber mit meiner Familie verbracht oder auch viel mit Freunden unternommen. Im Fernsehen habe ich trotzdem Spiele gesehen, ganz ohne Fußball geht es dann auch nicht.
Wenn morgen der erste Spieltag wäre, und Sie dürften die Mannschaft aufstellen: Auf welcher Position stünde dann Dominik Kohr?
Eigentlich relativ egal, Hauptsache, er steht in der ersten Elf. (lacht) Bo Henriksen sieht mich eher auf der Innenverteidigerposition, das ist aber auch nicht schlimm, denn wenn man da öfter spielt, passt man sich an. Ich glaube, die Spiele, die ich in der Kette absolviert habe, waren gut. Ich konnte der Mannschaft helfen, und wenn ich, wie gegen Heidenheim, wieder auf der Sechs spiele: Warum nicht? Ich sehe es auch nicht als Rückschritt, als Innenverteidiger zu spielen.
Bo Svensson hatte Sie schon mal hinten ausprobiert, das waren noch nicht ganz so gelungene Spiele, zumal Sie auf der Sechs fehlten. Wie lange haben Sie gebraucht, sich mit der neuen Rolle anzufreunden?
Es ist immer schwierig, seinen Rhythmus zu finden, wenn man ein Spiel auf der Sechs spielt und dann wieder Innenverteidiger, weil es andere Aufgaben sind. Wenn man jahrelang im defensiven Mittelfeld spielt, hat man Erfahrung, man weiß, wie man Lösungen findet. Bei Bo Henriksen war es so, dass ich nach drei, vier Spielen hintereinander in der Kette stabiler war, dass ich im Spielaufbau wusste, wie ich mit den Situationen umgehen musste. Das Verständnis mit den anderen Kollegen hat immer besser funktioniert, und ich bin mit einem anderen Bewusstsein in die Spiele gegangen.
Was ist der große Unterschied zwischen den beiden Positionen? Müssen Sie noch stärker im Verbund arbeiten, als wenn Sie im Mittelfeld Ihre Spuren hinterlassen?
Der größte Unterschied ist, dass man sich als Innenverteidiger kaum Fehler erlauben darf. Wenn du hinten einen Ball bekommst, gehst du kein großes Risiko ein und spielst ihn lieber aus der Zone raus, als Sechser kannst du einen mutigeren Pass spielen. Du kannst auch mutiger nach vorne pressen, um einen Ball wegzuspitzeln, als Innenverteidiger ist es blöd, wenn du zu weit aufrückst, und der gegnerische Stürmer hat plötzlich freie Bahn. Dafür muss man ein Gefühl entwickeln, das ist mir schnell gelungen.
Im zentralen Mittelfeld waren Sie immer der Chef und hatten junge Leute neben sich. Dann kommen Sie in die Innenverteidigung und kriegen Tipps von Sepp van den Berg, der gerade dem Teenageralter entwachsen ist. War das ungewohnt?
Ach, überhaupt nicht. Ich glaube, jeder kann immer noch etwas Neues lernen, und ich bin immer bereit dazu. Wenn jemand mit Tipps geben kann, der die Position schon länger spielt, nehme ich die gerne an. So machen wir uns einfach auch stärker. Auch deshalb hat das so gut harmoniert.
Sie gelten als einer der kompromisslosesten Defensivspieler der Liga.
Ja.
Das ist aber auch eine schmale Gratwanderung, was die Gelben Karten angeht, oder?
Das stimmt, aber im Mittelfeld ist das noch mal was anderes, weil da oft auch taktische Fouls dabei sind. Als Innenverteidiger muss man schon eher aufpassen, da ist man einer Roten Karte näher und braucht viel Fingerspitzengefühl, um Situationen anders zu klären.
Ist das ein Lernprozess, die Balance zu finden, wann man wie hart einsteigen darf? Oder konnten Sie das von Beginn an steuern?
Das kommt mit der Erfahrung. Mit meinen mittlerweile 30 Jahren löse ich Spielsituationen anders als früher mit 18.
Wie viele Trainingslager haben Sie als 30-Jähriger hinter sich?
(lacht) Schon einige. Ich bin seit zwölf Jahren Profi, das macht locker 24 Trainingslager.
Machen die immer noch Spaß?
Auf jeden Fall. Wenn man ein dreijähriges Kind hat, ist es auch schön, mal auszuschlafen. (lacht) Für mich ist es nie ein Zwang, in ein Trainingslager zu gehen. Es ist auch einfach eine gute Vorbereitung auf die neue Saison, und wenn man eine Woche durchgehend mit den Teamkollegen verbringt, schweißt uns das auch zusammen.
Ich nehme an, jeder Trainer macht etwas anders. Wie ist das bei Bo Henriksen?
Mittlerweile sind die Trainingslager stärker mit den Fitnesscoaches abgestimmt. Ich hatte schon mal mit Stefan Bell und Danny da Costa darüber gesprochen, dass wir andere Zeiten erlebt haben, als man teilweise an zwei Tagen hintereinander zweimal auf dem Platz stand, dann ermüdet in ein Testspiel ging und nicht mehr alles raushauen konnte. Jetzt liegt der Fokus eher auf den Testspielen, um die erfolgreich zu bestreiten.
Vor dem Test gegen Holstein Kiel stand im Training Pressing auf dem Programm – beziehungsweise, sich aus dem Pressing zu befreien. Lief das schon in Ihrem Sinne?
Es ist in jedem Fall der richtige Ansatz, das im Training zu üben. Es gab viele Spiele, in denen wir nur mit langen Bällen gearbeitet haben, um das gegnerische Pressing zu überspielen. Wir haben dadurch auch viele Chancen kreiert, indem wir hinter die Kette gekommen sind. Trotzdem muss man auch andere Lösungsansätze üben, müssen wir in der Lage sein, mit kurzen Pässen nach vorne zu kommen. Und wenn wir doch lang klären müssen, heißt das nicht, dass wir den Ball irgendwohin spielen, sondern die Stürmer wissen genau, dass wir ihnen präzise in den Lauf spielen. Es geht nicht um „Hoch und weit bringt Sicherheit“.
Das Gespräch führte Peter H. Eisenhuth.