„Es geht nicht um Fußball. Es geht um den Widerstand“
Mainz. Unter normalen Umständen träfen sich an diesem Dienstagabend in Mainz, im Rhein-Main-Gebiet, überall in Deutschland zahlreiche Iranerinnen und Iraner, um sich das Weltmeisterschaftsspiel ihrer Nationalmannschaft gegen die USA anzuschauen. „Iraner sind Patrioten, auch wenn sie im Exil leben“, sagt Mehdi Jafari Gorzini. „Und Sportler genießen bei uns traditionell große Anerkennung. Wir waren eins mit ihnen. Früher kamen zu solchen Ereignissen mehrere Hundert Leute zusammen, die alle hinter der Mannschaft standen.“
Heute sind die Umstände nicht mehr normal. Nicht mehr, nachdem am 16. September die Kurdin Jina Mahsa Amini fünf Tage vor ihrem 23. Geburtstag im Gefängnis ums Leben kam. Drei Tage nachdem sie von Einheiten der Sittenpolizei verhaftet und geschlagen wurde, weil sie ihren Hidschāb in der Öffentlichkeit nicht korrekt getragen habe. Ihr Tod löste eine Protestwelle im ganzen Land aus, die auch zweieinhalb Monate später nicht abebbt, trotz des brutalen Vorgehens des Regimes, obwohl nach Schätzungen der Menschenrechtsorganisation Human Riht Activist News Agency mindestens 450 Demonstrantinnen und Demonstranten ermordet und mehr als 15.000 inhaftiert wurden.
Verachtung für einstigen Hoffnungsträger
„Seitdem hat sich alles geändert“, sagt Jafari Gorzini, 1979 aus seiner Heimat am Kaspischen Meer nach Deutschland geflohen, in Mainz heimisch und politisch aktiv geworden; unter anderem war er Landessprecher der rheinland-pfälzischen Grünen, später wechselte er zur SPD. Die iranische Gesellschaft habe sich in zwei ungleiche Teile gepalten – „zwei oder drei Millionen sind für das Regime, achtzig Millionen sind dagegen. Dazwischen gibt es nichts mehr“.
Das bekämen im auch die namhaftesten Sportler zu spüren. „Du kannst Weltmeister oder Olympiasieger sein: Wenn du dich nicht gegen das Regime aussprichst, wollen die meisten Leute nichts mehr wissen. Sie verachten dich nur noch.“
Der 64-Jährige nennt als Beispiel Hasan Yazdani, Weltmeister und Olympiasieger im Ringen, der Sportart Nummer eins im Iran. „Es gab bis vor Kurzem im ganzen Land niemanden, der beliebter war als er. Er galt als der Hoffnungsträger von Millionen Hoffnungslosen.“
Sport und Politik sind nicht zu trennen
Nach Jina Mahsa Aminis Tod aber habe er sich nicht klar positioniert, sondern versucht, sich in der Mitte aufzuhalten, obendrein habe den einstigen Fußballprofi Ali Karimi, der sich gegen das Regime stellt, auf seinem Instagramkanal als Follower entfernt. „Dafür hat er innerhalb von Minuten 70.000 bis 80.000 Kommentare kassiert.“ Keine freundlichen. „Die Beschimpfungen waren so krass, dass ich fast schon Mitleid mit ihm empfinde. Hasan Yazdani hat seine einzigartige Stellung innerhalb des iranischen Sports, innerhalb der iranischen Nationalmannschaft eingebüßt.“
Sport und Politik ließen sich nicht trennen, sagt Jafari Gorzini. „Dafür instrumentalisiert die Politik den Sport viel sehr, um das eigene Image aufzupolieren.“ Olympische (Winter-!)Spiele in Peking und Sotschi, die vorige Fußball-WM in Russland, jetzt Katar sind Beispiele. In Demokratien versuche die Politik zwar ebenfalls des Öfteren, den Sport zu vereinnahmen – dort aber könnten sich Sportler und Fans wehren.
Wie war das in Argentinien
„Früher hat man die Augen vor Dingen verschlossen, die den schönen Schein gestört hätten“, sagt Jafari Gorzini. Wie bei der Fußball-Weltmeisterschaft 1978 im von einer Militärjunta regierten Argentinien, wo Menschen verschleppt, gefolterte und zu Zehntausenden ermordet wurden. Die Reaktionen des DFB und einiger seiner Fußballer waren peinlich und sind es auch heute noch:
- „Belasten tut mich nicht, dass dort gefoltert wird. Ich habe andere Probleme.“ (Manfred Kaltz)
- „Die politischen Zustände in Argentinien interessieren mich überhaupt nicht. Ich konzentriere mich auf die Fußball-Weltmeisterschaft. Das Militär stört mich da auch nicht.“ (Klaus Fischer)
- „Argentinien ist ein Land, in dem Ordnung herrscht. Ich habe keinen einzigen politischen Gefangenen gesehen.“ (Berti Vogts)
Mehdi Jafari Gorzini verdreht die Augen, wenn er darüber spricht. „Das haben deutsche Fußballer über ein fremdes Unrechtsregime gesagt. Viel schlimmer ist es aber, wenn iranische Spieler sagen, sie konzentrierten sich auf den Sport und hätten nichts mit Politik zu tun, bei all dem, was gerade im Iran passiert.“
Die Nationalmannschaft, die an diesem Dienstag ab 20 Uhr gegen die USA um den Einzug ins Achtelfinale spielt, gelte den meisten Iranern als „Mannschaft der Mullahs“, sagt Jafari Gorzini. „Und Katar ist ein Staat, der das Regime in Teheran unterstützt.“ Die Anhänger des Teams in den Stadien seien zu großen Teilen gekauft, unter den Zuschauern seien nicht wenige Revolutionswächter. Oppositionelle Fans, Exiliraner, die in die Stadien wollten, sähen sich Repressalien ausgesetzt und erhielten kaum noch Einlass, nachdem sie während des ersten Spiels gegen England deutlich zu vernehmen gewesen seien.
Einige spielen für den Führer
Ein Teil der Spieler des WM-Kaders seien eng mit dem iranischen Geheimdienst, den Revolutionswächtern und dem Büro von Ali Chamenei, dem „Obersten Führer“ verbunden. „Einige haben ja auch schon in der Liga gesagt, sie spielten für den Führer.“ Andere seien Mitläufer, die den Sport isoliert betrachteten. „Und es gibt Spieler, die unter Zwang dabei sind.“
Einer der Mutigsten: Ramin Rezaeian, der Schütze des 2:0 beim Sieg gegen Wales. Er kommentierte seinen Treffer mit den Worten, er habe in dem Moment nicht gewusst, „ob ich lachen oder weine soll“ und widmete ihn explizit den Menschen im Iran – „ich liebe euch aus ganzem Herzen“. Diese Sätze hätten viele Regimegegner gefreut, gingen manchen aber nicht weit genug. „Die Bringschuld unserer Sportler ist extrem hoch.“
Als Helden, weil klar gegen die Mullahs positioniert, gelten unter anderem die ehemaligen Fußballer Ali Karimi, der zwei geplanten Entführungen entgangen sei und inzwischen in Kanada lebt sowie Ali Daei, trotz mehrerer Todesdrohungen noch im Iran. Und der noch aktive Ex-Nationalspieler Vouria Ghafouri, ein Kurde, der vorige Woche für einige Tage verhaftet wurde, da er „den Ruf der Nationalmannschaft befleckt und Propaganda gegen den Staat verbreitet“. Seine Inhaftierung könnte auch als Drohung gegen die Hymnenverweigerer des Auftaktspiels gedacht gewesen sein.
Wie viel Mut kann man einfordern?
Bei aller Kritik an den Sportlern, die sich mit Äußerungen und Gesten gegen das Regime zurückhalten, die es in Kauf nehmen, instrumentalisiert zu werden: Wie viel Widerstand kann man von ihnen verlangen, wenn sie wissen, dass sie damit ihr eigenes Leben und das ihrer Familien riskieren würden? „Schwierige Frage“, sagt Mehdi Jafari Gorzini. „Ich glaube, man kann nichts von anderen einfordern, wozu man nicht selbst bereit wäre. Das fände ich anmaßend.“
Die Menschen im Iran allerdings, die ihren Protest auf die Straße bringen, könnten sehr wohl höhere Ansprüche formulieren. Sie setzen ja auch das eigene Leben für den Sturz des Regimes aus Spiel.
Das Spiel gegen die USA, glaubt Jafari Gorzini, werden viele Exiliraner sich gar nicht erst anschauen – und falls doch, nicht die Daumen für den Iran drücken. Im Iran selbst werde die Resonanz kaum größer ausfallen. „Sport interessiert derzeit kaum jemanden. Es geht nicht um Fußball. Es geht um den Widerstand.“