Nichtig und klein
Lausanne/Frankfurt. Man will ja über niemanden vorschnell den Stab brechen. Doch wer sich in den vergangenen Tagen mit den Stellungnahmen nationaler und internationaler Sportverbände beschäftigte, kann zu dem Schluss gelangen, dass die Vertreter des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) in Sachen Coronavirus bislang entweder nicht in der Lage waren, ihre Gehirnzellen zu aktivieren, oder das Ziel haben, irgendwann einmal mit einem noch zu erfindenden Sonderpreis für größtmögliche Ignoranz ausgezeichnet zu werden.
Weltweit hat Sars-Cov-2 nicht nur, aber auch den Sport lahmgelegt, was unter anderem diverse Qualifikationswettkämpfe für die Spiele betrifft, die am 24. Juli in Tokio beginnen sollen. Immerhin das hatte IOC-Präsident Thomas Bach schon vorige Woche registriert und „ernsthafte Probleme mit den Qualifikationswettbewerben“ eingeräumt.
Das von seinem Verband ausgerichtete Boxturnier in London allerdings schien nicht zu diesen Problemen zu gehören: Ganz im Sinne des britischen Premierministers Boris Johnson, der das Land lieber durchseuchen wollte, als Schritte zur Eindämmung des Virus zu unternehmen, durften die Athletinnen und Athleten im Kampf um die Olympiatickets in den Clinch gehen. Vor Publikum. Sollten die Verantwortlichen sich demnächst doch einem Coronatest unterziehen, könnte man bei der Gelegenheit vielleicht gleich mal nachschauen, wie es sich mit BSE-Spätfolgen verhält.
Abbruch wegen Reisebeschränkungen
Immerhin: Nach drei Tagen erfolgte der Abbruch des Turniers. Allerdings nicht mit Gesundheitsgefahren begründet, sondern wegen der sich verschärfenden internationalen Reisebeschränkungen und Quarantänebestimmungen. Den Teilnehmern aus mehr als 60 Ländern sollte „die Möglichkeit gegeben werden, nach Hause zurückzukehren", hieß es in der IOC-Mitteilung.
Auch immerhin: Am Dienstag dieser Woche enthielt eine IOC-Erklärung den hauchzarten Ansatz eines Hinweises darauf, dass er Verband eventuell in die Lage versetzt werden könnte, unter Umständen womöglich über eine Verschiebung der Spiele nachzudenken. Also, vielleicht. Der Ansatz beschränkte sich freilich darauf, dass in der Erklärung kein Eröffnungsdatum genannt wurde, wie die FAZ festhielt. Ansonsten: „Mit mehr als vier Monaten bis zu den Spielen gibt es keine Notwendigkeit für drastische Entscheidungen; und jede Spekulation in diesem Moment wäre kontraproduktiv.“
Dass der einstige Weltklassefechter Bach, womöglich nachhaltig durch den Olympiaboykott des Westens bei den Spielen in Moskau 1980 traumatisiert, und seine Mitstreiter den Humor nicht verloren haben, bewiesen sie mit einem weiteren Halbsatz: „Die Entscheidung des IOC wird nicht von finanziellen Interessen geleitet sein…“
DFB-Chef Keller: „Infektionskette unterbinden“
Vielleicht aber, man will ja nichts ausschließen, gelangen auch die Chef-Olympioniken aus Lausanne noch zu der Erkenntnis, die Fritz Keller, der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) am Mittwoch frei nach Reinhard Mey formulierte: „Was uns gestern noch wichtig und richtig erschien, ist heute nichtig und klein…“ Der Fußball als solcher trete gerade in den Hintergrund, gefragt sei zum einen, sich an die von den Behörden, Bund und Ländern vorgegebenen Regeln im Umgang mit dem Coronavirus zu halten, und zum anderen Solidarität.
80.000 Fußballspiele seien am vorigen Wochenende abgesagt worden, berichtete Keller. Damit hätten der DFB sowie seine Regional- und Landesverbände einen Beitrag geleistet, um die Infektionskette zu unterbrechen. „Wir haben die Sozialkontakte reduziert“, sagte Keller – was auch bei der via Skype ausgerichteten Pressekonferenz deutlich wurde, bei der er und DFB-Pressesprecher Jens Grittner in der Frankfurter Verbandszentrale saßen, Bundestrainer Joachim Löw und Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff aber aus Freiburg beziehungsweise München zugeschaltet waren – „aber wir sind im Herzen verbunden.“
Strukturen und Jobs erhalten
Ungeachtet der aktuellen Einschränkungen müsse der DFB aber auch nach vorne blicken. Die Frage, wann der Spielbetrieb wieder aufgenommen werden kann, lässt sich freilich nicht seriös beantworten. „Abschließende Antworten sind derzeit überall gefragt“, sagte Keller. „Ich weiß sie auch nicht alleine.“ Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist davon auszugehen, dass die unter die Verantwortung des Verbands fallenden Ligen ihre Runden nicht zu Ende spielen können. Und dann?
„Wir wollen die Zeit nutzen, um Lösungen zu erarbeiten, um die Struktur von 25.000 Vereinen und 700.000 Mitgliedern zu erhalten. Und wir wollen den mehr als 250.000 hauptamtlichen Mitarbeitern in Deutschland den Job erhalten und dann auch noch die Strukturen für die Ehrenamtlichen hinkriegen.“ Für all dies bedürfe es des Zusammenhalts von der Kreisliga bis zur Bundesliga. Der DFB sei finanziell gut aufgestellt, er werde das Polster nutzen, um seine Untergliederungen zu unterstützen.
Bierhoffs Plädoyer für Solidargemeinschaft
Dass die angemahnte Solidarität auch über die Grenzen des Fußballs hinausreicht, verdeutlichte Oliver Bierhoff. In Telefonaten mit Nationalspielern habe er große Betroffenheit gespürt. Manuel Neuer, Ilkay Gündogan, Marc-André ter Stegen, Joshua Kimmich und Toni Kroos hätten in einem ersten Schritt beschlossen, im Kreise der Kollegen Geld für soziale Zwecke zu spenden, mit denen sich die Folgen der Coronakrise abmildern ließen. 2,5 Millionen Euro seien auf diese Weise zusammengekommen. „Das zeigt, dass die Mannschaft eine Einheit ist, dass wir als Team Deutschland auftreten.“
Joachim Löw spannte einen noch größeren Bogen. „Ich habe das Gefühl, dass die Erde sich gegen den Menschen stemmt“, sagte der Bundestrainer. Umweltkatastrophen wie die monatelang tobenden Buschbrände in Australien hätten uns nur am Rande berührt. „Jetzt erleben wir etwas, das die gesamte Menschheit betrifft und stellen fest, was zählt: Familie, Freunde, der Umgang miteinander“ – nicht „Macht, Gier, Profit und Rekorde“. Nebenbei bemerkt: Wie Fritz Keller berichtete, haben Löw und Bierhoff dem DFB aus eigenen Stücken angeboten, auf einen Teil ihres Gehalts zu verzichten.
Damit scheint der (deutsche) Fußball ein gewaltiges Stück weiter zu sein als internationale Verbände. Ob dem tatsächlich so ist oder der Schein trügt, wird sich in den kommenden Wochen und Monaten zeigen. „In einer Solidargemeinschaft müssen die Großen, denen es besser geht, die anderen unterstützen“, betonte Oliver Bierhoff am Mittwoch. Er räumte aber ein: „Was von den Vereinen kommt, ist eine ganz andere Frage.“
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