Bundesliga | Peter H. Eisenhuth | 15.04.2020

„This is an emergency case!“

Die Sportjournalisten Daniel Meuren und Tobias Schächter haben eine Thomas-Tuchel-Biografie geschrieben. SPORTAUSMAINZ.de veröffentlicht einen Vorabdruck.
Mit dem Zweiten liest man besser. Nur für den Fall, dass Thomas Tuchel seine gerade erschienene Biografie in die Hand nehmen wird.
Mit dem Zweiten liest man besser. Nur für den Fall, dass Thomas Tuchel seine gerade erschienene Biografie in die Hand nehmen wird. | Eva Willwacher
Neu im Handel: „Thomas Tuchel. Die Biografie“.
Neu im Handel: „Thomas Tuchel. Die Biografie“. | Verlag Die Werkstatt
Die Autoren: Tobias Schächter (l.) und Daniel Meuren.
Die Autoren: Tobias Schächter (l.) und Daniel Meuren. | privat

„Ein Besessener, der Mittelmaß verabscheut.“

                         „Für manche Übungen braucht man Abitur.“

                                                                                            „Der Anti-Klopp.“

Drei Aussagen über Thomas Tuchel und seine Arbeit. Und drei Kapitelüberschriften aus einem Buch über den ehemaligen Trainer des FSV Mainz 05, das gerade erschienen ist. „Thomas Tuchel. Die Biografie“ heißt es, geschrieben haben es die Sportjournalisten Daniel Meuren und Tobias Schächter, die den rheinhessischen Bundesligisten über etliche Jahre verfolgt und damit auch die Ära des heutigen Trainers von Paris St. Germain am Bruchweg intensiv erlebt haben.

„Die Idee dazu hatte ich schon bei seinem Abschied aus Mainz“, erzählt Meuren. „Mir erschien es einfacher, ein Buch zu schreiben als einen ausgewogenen, sezierenden Artikel, wie es letztlich zum Zerwürfnis kam.“ An Eindrücken und Notizen mangelte es schließlich nicht – „ich hatte die Jahre, in denen ich auch oft am Trainingsplatz war, auch noch sehr gut im Kopf“.

Den letzten Anstoß habe ihm Polo Breitner gegeben, ein französischer Kollege, für dessen Tuchel-Buch „L‘énigme Tuchel“ („Das Rätsel Tuchel“) er als Gesprächspartner zur Verfügung stand. „Das war ein bisschen absurd, dass ich fünf Stunden lang in sein Aufnahmegerät reden konnte – das wäre ja schon ein halbes Buch gewesen...“

Viele Wegbegleiter kommen zu Wort

Also machte er sich gemeinsam mit Schächter selbst ans Werk. Zu zahlreichen Wegbegleitern Tuchels von dessen unterschiedlichen Stationen nahmen sie Kontakt auf, mit vielen führten sie ausführliche Gespräche. Namentlich zu Wort kommen im Buch aus der Mainzer Zeit unter anderem Niko Bungert, Marco Caligiuri, Daniel Gunkel, Christian Heidel, Dag Heydecker, Stefan Hofmann, Andreas Ivanschitz, Volker Kersting, Jan Kirchhoff, Tim Klotz und Sandro Schwarz. Auch der ehemalige Dortmunder Torhüter Roman Weidenfeller und die Trainer Julian Nagelsmann und Alois Schwartz sind dabei. „Einige ehemalige Spieler und Wegbegleiter von Thomas Tuchel, die uns mit wertvollen Hintergrundbeschreibungen versorgt haben, wollten ihren Namen nicht in diesem Buch lesen“, sagt Meuren.

Die Biografie befasst sich nicht nur mit dem Trainer Tuchel, der in Mainz seinen Durchbruch erlebt und einen absonderlichen Abgang zelebriert, der den BVB übernimmt und jetzt in Paris arbeitet, sondern auch mit dem Spieler, dem die große Karriere verwehrt bleibt. Der bei den Stuttgarter Kickers als junger Mann mit eigener Meinung von Trainer Rolf Schafstall gedemütigt wird. Der beim SSV Ulm hohe Anerkennung im Mannschaftskreis genießt, unter anderem wegen solcher Geschichten:

Im Januar 1996 bereitet sich die Mannschaft in einem Trainingslager auf Lanzarote auf die Rückrunde vor. (Oliver) Wölki, (Philipp) Laux und Tuchel teilen sich ein Dreibettzimmer, die Spieler müssen sich selbst verpflegen. An einem Abend – die drei kochen gerade – erreicht Wölki ein schicksalhafter Anruf. Seine Eltern teilen ihm mit, dass seine hochschwangere Freundin das Kind verloren hat. Um ihr beizustehen, will Wölki so schnell wie möglich nach Hause. Dem damaligen Ulmer Teammanager Uli Frommer gelingt es aber auf die Schnelle nicht, einen Flug zu organisieren. Das will Tuchel nicht wahrhaben und übernimmt die Initiative. „Thomas hat dann bei der spanischen Fluggesellschaft Iberia angerufen und auf Englisch ins Telefon geschrien: ,This is an emergency case!‘ Der hat so lange Terz gemacht, bis die mir einen Flug buchten“, erinnert sich Wölki. „Ich bin dann früh morgens von Lanzarote über Madrid zurück nach Frankfurt und von dort nach Hause gereist. Der Flug hat 1.200 Mark gekostet, der Verein hat nichts übernommen. Da ging Thomas sammeln bei den Mitspielern und hat Philipp, der unser Kassenwart war, das Geld gegeben. Das werde ich Thomas nie vergessen.“

Und der wegen einer schweren Knieverletzung die aktive Laufbahn mit 24 Jahren beenden muss, während sich die Ulmer unter Trainer Ralf Rangnick auf den Weg in die Erste Liga machen.

Assistent sagt ab

Thomas Tuchel selbst wird im Buch sehr oft zitiert – für ein persönliches Gespräch stand er den Autoren allerdings nicht zur Verfügung. „Dabei sah es eigentlich ganz gut aus“, sagt Meuren. „Wir hatten ihn in Metz, am Rande eines Spiels von PSG darauf angesprochen. Wir hätten gerne ein Interview ans Ende des Buchs gestellt. Und er schien nicht abgeneigt, es sei in Mainz doch immer ganz nett gewesen.“

Meuren und Schächter sollten Tuchels Pariser Assistenten eine Mail mit einer offiziellen Anfrage schicken. Dessen Antwort fiel kurz aus: Es werde kein Interview geben.

Das Buch funktioniert auch ohne.

 

 

Auszug aus „Thomas Tuchel. Die Biografie“

 

MIT AL PACINO ZUM SIEG

ÜBER DIE BAYERN

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Psychotricks und Regeln brechen


Das erste Training verläuft bemerkenswert unspektakulär. Die Beobachter, gleich ob Journalisten oder die für Mainzer Verhältnisse recht zahlreichen, gut fünf Dutzend Kiebitze, haben ein Feuerwerk an revolutionären Übungen erwartet, die Übungseinheit eines jungen Fußballlehrers, der meint, sich beweisen zu müssen. Aber Tuchel ist viel mutiger. Er wagt die Einfachheit. Der Trainer kommt unprätentiös mit einer Stoppuhr und einer Trillerpfeife um den Hals auf den Trainingsplatz, spricht kurz zu seiner neuen Mannschaft, und dann sieht man eine halbe Ewigkeit lang Profis, die sich Bälle ganz simpel über sieben oder acht Meter zuspielen und sich dabei ihre Namen zurufen. Die Einheit vermittelt den Eindruck eines Kennenlernspiels in einer bunt zusammengewürfelten Jugendmannschaft. Doch die Übung hat ihren Sinn.

Tuchel hat unter anderem zwei große Defizite bei seinem Team ausgemacht: Das Passspiel ist ihm zu lasch, entsprechend hört man ihn in dieser wie in den Trainingseinheiten der folgenden Wochen immer wieder das Wort „schärfer“ über den Platz schreien. Jeder Pass soll so scharf gespielt werden wie möglich und nötig. Und die Namensnennung beim Passspiel soll dafür sorgen, dass eine in der Krise mit dem Vorgänger verstummte Mannschaft dazu findet, dass die Spieler wieder miteinander sprechen.

„Ich weiß noch, dass nach dem Training viele gesagt haben, der macht jetzt Schüler- oder Jugendtraining“, sagt Christian Heidel. „Aber die Mannschaft dachte das überhaupt nicht. Tuchel kam gut an, seine Ansprache kam an. Vor dem Training hat er mit der Mannschaft fünf Minuten geredet – da war der Jugendtrainer in die Kabine gekommen. Und als die Mannschaft aus der Kabine rauskam, war er der Profitrainer.“ Tuchel zeigt vom ersten Moment an ein Charisma, mit dem er die Mannschaft für sich gewinnt.

Andreas Ivanschitz beurteilt das aus Sicht eines damaligen Führungsspielers ähnlich. „Das waren schon spannende Tage“, erinnert sich der damalige Topverdiener im Mainzer Kader. Gut drei Wochen zuvor ist der 25-jährige österreichische Nationalspieler als erfahrener Stareinkauf verpflichtet worden. Er soll als Spielgestalter das Herzstück des Mainzer Teams werden. „Die Entlassung von Andersen war dann erst mal ein Schock. Es wird ja schließlich jener Trainer gefeuert, der dich geholt hat. Und du entscheidest dich ja auch wegen Gesprächen mit dem Trainer und dessen Ideen für einen Transfer. Dazu bist du bei einem Bundesliganeuling. Es gibt sicher angenehmere Situationen“, sagt Ivanschitz. „Aber dann schwemmte Thomas Tuchel diese ganze Angst, diese Bedenken mit seinem ersten Auftritt weg. Er kam als junger Trainer in die Kabine und hat mit seiner Ausstrahlung und Lockerheit die Zweifel genommen. Er strahlte und hatte Bock auf den Job. Er war bereit. Das spürte man einfach. Spätestens auf dem Platz war dann jeder von ihm überzeugt. Die ersten Stunden in der Kabine und auf dem Platz waren einfach beeindruckend. Mir hat das direkt die Unsicherheit genommen.“

Tuchel registriert mit feinem Gespür, dass der erste Auftritt vor seiner neuen Mannschaft gelungen ist. Er stellt sich schon am selben Tag einem Interview mit der FAZ. Damals ist er noch offen für solche Gespräche, die ihn schon drei Jahre später zu langweilen beginnen, als er sich mehr und mehr auf die Pflichtveranstaltungen für Trainer beschränkt. „Heute war ein schöner Tag für mich“, sagt er. „Ich habe mich auf den Job gefreut. Und das kann man mit einem Lachen zeigen. Dann kriegt man auch ein Strahlen zurück. Wenn die Spieler das so bemerkt haben, ist das ein gutes Zeichen.“

Wenige Tage später reflektiert er seinen beruflichen Aufstieg noch einmal etwas ausführlicher. „Ich profitiere von einer absolut glücklichen Fügung. Es war für mich schon Glück, so sehr wertgeschätzt zu werden als Trainer der A-Junioren. Sicher war auch wichtig, dass der Verein bei Jürgen Klopp mit einer ähnlichen Entscheidung gute Erfahrungen gemacht hat“, sagt er. „Ich kenne viele andere gut ausgebildete Trainer, die das Glück noch nicht hatten. Wir haben uns auf den Tagungen der U19-Trainer immer wieder gefragt, wie man in den Profibereich kommt, ohne die obligatorischen Länderspiele und Bundesligaeinsätze im dreistelligen Bereich. Da gehört einfach Glück dazu, einen Verein zu haben, der sich was traut. Ich glaube, dass mein Werdegang bei fast keinem anderen Verein möglich gewesen wäre.“

Tuchel rechtfertigt das Vertrauen umgehend. Vier Tage nach seinem Dienstantritt läuft eine völlig andere 05-Elf auf, als zum Saisonauftakt Bayer Leverkusen in Mainz zu Gast ist. Thomas Tuchel beginnt seine Laufbahn als damals jüngster Trainer der Bundesliga ausgerechnet in einem Duell mit dem damals ältesten Coach. Altmeister Jupp Heynckes, 64, hatte 22 Jahre zuvor für einen Wutausbruch bei seinem heutigen Gegenüber gesorgt: Als Heynckes seine Mönchengladbacher Borussia 1987 Richtung Bayern München verließ, riss im schwäbischen Krumbach ein 13 Jahre alter Borussen-Fan aus Ärger ein paar Poster von der Wand.

Jetzt, in Mainz, begegnet Tuchel seinem einstigen Idol mit dem gebotenen Respekt abseits des Spielfelds, aber auf dem Platz fordert seine Mannschaft den Favoriten aus Leverkusen erstaunlich couragiert heraus: Nach fünf Minuten bringt Tim Hoogland die Rheinhessen in Führung. Torhüter Heinz Müller wehrt anschließend noch einen Elfmeter von Tranquillo Barnetta ab. Trotzdem liegt Bayer zur Pause 2:1 vorn dank Treffern von Derdiyok und Kießling kurz vor dem Halbzeitpfiff. In den zweiten 45 Minuten plätschert das Spiel vor sich hin. Das Bundesligadebüt von Thomas Tuchel scheint mit einer Niederlage zu enden.

Aber dann trifft der eingewechselte Daniel Gunkel. Der Mittelfeldspieler drischt einen Freistoß aus 22 Metern mit perfekter Schusstechnik über die Mauer hinweg ins Tor. „Ich weiß von Leuten aus seinem Trainerteam, dass Thomas Tuchel noch heute immer mal wieder erzählt, dass seine Karriere auch hätte ganz anders verlaufen können, wenn ich diesen Ball nicht reingehauen hätte“, sagt Gunkel. Der Teilerfolg im ersten Spiel unter dem neuen Trainer stärkt das Vertrauen der vielen altgedienten Profis in den so bundesligaunerfahrenen Trainer. In der Woche darauf spielen die Mainzer in Hannover das nächste Unentschieden ein.

Und dann kommt der erste große Festtag: Bayern München erscheint am Bruchweg mit dem neuen Trainer Louis van Gaal. Tuchel und sein Team messen sich also nach nicht einmal drei Wochen der Zusammenarbeit mit einem der besten Teams der Welt und einem der erfolgreichsten Trainer im Weltfußball. Van Gaal, einst mit Ajax Amsterdam Champions-League-Sieger und beim FC Barcelona sowie mit der niederländischen Nationalmannschaft recht erfolgreich, gehört zu jenen, an denen Tuchel sich orientiert hat bei seinem Werdegang. Der Niederländer, der die Öffentlichkeit und auch viele seiner Spieler mit seiner knorrigen Art verstört, ist ein Verfechter des Positionsspiels. Und er ist ein Tüftler, wenn es um die Feinheiten des Trainings geht. In seinem zu jener Zeit erschienenen Buch „Louis van Gaal – Biographie & Vision“ beschreibt van Gaal zahlreiche Beispielübungen, die jenen ähneln, die Tuchel für sein Team zu jener Zeit entwickelt hat. Immer ging es Tuchel dabei darum, seine Spieler durch Aufgabenstellungen zu zwingen, sich intuitiv so zu verhalten, wie es Tuchel für den Spielansatz im Wettkampf wünscht.

Schon im dritten Spiel seiner Cheftrainerlaufbahn gegen die Bayern sind Fortschritte durch Tuchels Arbeit zu sehen. Die Passschärfe fällt ins Auge. Aber gegen die Übermannschaft des deutschen Fußballs geht Mainz 05 vor allem mit einer Überzeugung ins Spiel, die durch die zwei Unentschieden an den ersten beiden Spieltagen gewachsen ist. Die Ergebnisse sind vermutlich ideal für den Ansatz des Trainers: Sein Team spürt, dass es wettbewerbsfähig ist, es besteht aber auch kein Grund für Leichtfertigkeit, wie sie durch allzu schnelle Erfolge entstehen könnte. So wächst die Neugier im Team, die Aufnahmebereitschaft scheint unermesslich, wie man bei den Trainingseinheiten sehen kann. Manche Spieler wie Schürrle oder auch Ivanschitz, die nach dem Training noch fleißig Freistöße üben, scheinen gar nicht genug bekommen zu können.

Die Situation erinnert an jene bei den A-Junioren, als in den ersten Wochen im Trainingslager Einheiten erst durch die einbrechende Dunkelheit beendet wurden, da die Spieler einfach nicht vom Feld wollten. Die Profis vertrauen ihrem Coach nach kurzer Zeit bereits blind. „Die ersten beiden Ergebnisse haben uns darin bestärkt, dass der Trainer ganz genau weiß, was er tut. Deshalb haben wir das auch vor dem Bayern-Spiel geglaubt“, sagt Ivanschitz. Tuchel selbst ist in den Tagen vor dem Spiel klug genug, nicht von einem Sieg gegen die Bayern als Ziel zu sprechen. Stattdessen gibt er seinem Team eine Aufgabe mit auf den Weg, die ergebnisunabhängig zu verwirklichen ist. „Unser Anspruch muss mindestens sein, dass die Bayern, wenn sie was holen, es mit blutiger Nase tun. Dann müssen sie nachher im Bus sitzen und sagen: Gut, dass wir das hinter uns haben“, sagt Tuchel.

Die Bereitschaft seines Teams für die denkbar schwerste Aufgabe bereits am dritten Spieltag verstärkt Tuchel dadurch, dass er erstmals bei den Profis ein später immer wieder gerne genutztes Mittel einsetzt. Während die Spieler beim Aufwärmen auf dem Platz sind, werden in der Kabine eine Leinwand aufgebaut, ein Notebook und ein Projektor eingerichtet. Nach ein paar letzten Worten zum Spiel schaltet Tuchel das Licht in der Kabine aus, und von der Leinwand spricht nur noch Al Pacino. Vier Minuten und 20 Sekunden lang peitscht der Hollywoodstar in „Any given Sunday“ („An jedem verdammten Sonntag“) in der Rolle des Footballtrainers Tony D’Amato ein krisengeschütteltes Team derart auf, dass es anschließend aus der Kabine stürmt und den hochfavorisierten Gegner besiegt.

Pacino sagt Sätze wie „Entweder bestehen wir als ein Team oder wir zerbrechen“, „In jedem Kampf gewinnt nur der, der für ein Stückchen Erde sein Leben einsetzt!“ oder „Seht euch den Mann neben euch an, ich glaube, dann werdet ihr jemanden sehen, der genauso denkt wie ihr“. Dann gehen die Spieler aufs Feld, im Kopf sind die letzten Worte Al Pacinos: „Entweder bestehen wir jetzt als ein Team, oder wir werden untergehen als Einzelgänger.“

Die Mainzer gehen tatsächlich bemerkenswert couragiert in die Begegnung und suchen ihr Heil in einer überfallartigen Pressingoffensive. Getragen wird das Ganze durch noch recht simple, klare taktische Vorgaben des Trainers, der den Spielaufbau der Bayern als Schwachpunkt ausgemacht hat. Die Münchner haben nach gut acht Wochen der Zusammenarbeit mit van Gaal noch lange nicht verinnerlicht, was der Niederländer mit seiner Lehre vom Positionsspiel von ihnen verlangt. Seine Spieler wirken statisch und unbeweglich, im Kopf gehemmt durch die neuen Anforderungen van Gaals.

Tuchel hat diese Schwäche erkannt und lässt seine Mainzer aus einer 4-1-4-1-Grundformation heraus wie wild anrennen – vor allem auf den verunsicherten Bayern-Neuzugang Edson Braafheid, der als Linksverteidiger zahlreiche Fehlpässe spielt oder den Ball gleich ins Aus drischt. Das Mittelfeldzentrum verdichten die Mainzer zudem so sehr, dass Bastian Schweinsteiger an der Seite von Neuzugang und Königstransfer Anatolij Timoschtschuk kaum zu einem geordneten Passspiel findet.

Die Mainzer belohnen sich für ihren Harakiri-Fußball mit zwei Toren bis zur Pause. Beim 1:0 durch Andreas Ivanschitz in der 25. Minute hilft Bayern-Schlussmann Michael Rensing freundlich mit. Das Tor ist eine besondere Pointe: Genau vor einem Spielzug wie diesem mit Ivanschitz als schussstarkem und torgefährlichem Mittelfeldspieler hatte vor dem Spiel Hansi Kleitsch gewarnt. Kleitsch, einst Förderer von Tuchel beim VfB Stuttgart, hatte sich mit der Gegneranalyse bei den Bayern quasi um eine Beschäftigung beworben. Dafür sezierte Kleitsch vor allem das Mainzer 2:2 gegen Leverkusen. „Für diese Analyse habe ich mit Thomas gesprochen, er hat mir sehr geholfen“, sagt Kleitsch.

Tuchel waren die Freundschaft zu Kleitsch und dessen Aussichten auf einen Job bei den Bayern so wichtig, dass er einem kommenden Gegner quasi in der Vorbereitung half. Van Gaal und sein Trainerteam vernahmen die Warnung, schlugen sie aber in den Wind. Van Gaals Assistent Andries Jonker antwortete Kleitsch, dass sie Ivanschitz nicht so offensiv sehen. Später wird sich van Gaal bei Kleitsch persönlich entschuldigen: „Wenn du was sagst“, so der Niederländer zu Keitsch, „dann glauben wir das ab jetzt immer!“

Im Spiel kommt es noch besser für Mainz: Das 2:0 gegen die Bayern erzielt in der 38. Minute Aristide Bancé, die schillerndste Figur in Tuchels erster Saison in Mainz. Der wegen der Bürgerkriegswirren in seiner Heimat vornehmlich in der Elfenbeinküste aufgewachsene Nationalspieler aus Burkina Faso hat die Mainzer in der Saison zuvor mit seinen Toren in die Bundesliga geschossen. Der fast zwei Meter große Hüne mit dem extrem muskulösen Körper bereitet dem Klub aber auch immer wieder Sorgen. Um sein Knie ist es so schlecht bestellt, dass er häufige Trainingspausen einlegen muss. Zudem hat Bancé ausgerechnet am ersten Trainingstag Tuchels in Mainz für einen Eklat gesorgt. Auf dem Parkplatz neben dem Bruchwegstadion soll er eine 23 Jahre alte Frau mit einem kleinen Kind in ihren Armen geschlagen haben. Die Frau behauptet noch dazu, dass Bancé, der frisch verheiratet und Vater eines sechs Monate alten Kindes ist, auch der Vater ihres Kindes sei.

Tuchel geht in den Folgetagen klug mit der Geschichte um. Er stellt klar, dass Bancés Verhalten inakzeptabel sei, aber er nimmt die Mannschaft und sich als Trainer in die Pflicht, Bancé aufzufangen. „Ich habe genau beobachtet, wie er sich verhalten hat. Er hat sich sehr zurückgenommen, den Vorfall nicht ansatzweise verniedlicht oder Späße gemacht“, sagt Tuchel. „Auch die Mannschaft ist sehr gut damit umgegangen. Das war ein gutes Zeichen und der richtige Umgang mit der Sache.“ Tuchel weiß, wie er einen solchen Spielertyp zu führen hat. Der eigenwillige, aber vom Wesen her gutmütige Bancé dankt es Tuchel mit einer formidablen Saison und zehn Toren.

Gegen die Bayern ist Bancé in der zweiten Halbzeit, die in der 47. Minute mit dem Anschlusstreffer von Thomas Müller beginnt, mit seiner Kopfballstärke gefragt, vor allem im eigenen Strafraum. Bancé befördert ein Dutzend Bälle bei Standards aus dem Strafraum. Und was der Stürmer und seine Feldspielerkollegen nicht zu verhindern wissen, das wehrt im Sturmlauf der Bayern 05-Torwart Heinz Müller ab. Der Schlussmann erlebt einen der besten Tage seiner Karriere, und Mainz 05 gewinnt erstmals in der 104-jährigen Vereinsgeschichte gegen Bayern München. Selbst Klubikone Jürgen Klopp ist in der Bundesliga sechsmal und einmal im Pokal mit seinen Mainzer Teams an dieser Aufgabe gescheitert.

Zur Belohnung darf Torwartheld Müller am Abend ins ZDF-Sportstudio. Dort wollten sie eigentlich Thomas Tuchel sehen. Der lehnt aber ab. Er hat sich wenige Minuten zuvor schon den Feierlichkeiten am Zaun des Fanblocks mit klugen Worten verweigert. „Ich bin heute keinen einzigen Meter gelaufen, habe keinen Zweikampf geführt, kein Tor vorbereitet und kein Tor geschossen“, sagt Tuchel. „Deshalb soll sich die Mannschaft da feiern lassen.“ Tuchel, der sich sicherlich geschmeichelt fühlt von einer Einladung in die Sendung, die nur fünf Kilometer vom Mainzer Stadion entfernt auf dem Lerchenberg produziert wird, setzt in die Tat um, was er in den Tagen zuvor gepredigt hat: Demut. Jenes Wort ist in der Anfangszeit als Profitrainer sein am häufigsten gebrauchtes.

„Ich glaube, dass es mir und uns allen gut zu Gesicht steht, bescheiden zu bleiben und schätzen zu lernen, welche Möglichkeiten wir als Fußballer in dieser Parallelwelt haben. Sicher ist Demut auch ein Leitfaden für mich. Ich versuche, danach zu leben, bescheiden zu sein und jeden Tag positiv anzugehen. Man sollte generell dankbar sein für die Talente, die man hat“, sagte er in einem Interview mit der FAZ vor dem Spiel gegen die Bayern und führt weiter aus: „Demut soll wohlgemerkt nicht verwechselt werden damit, dass wir uns kleiner machen, als wir sind. Wenn jetzt ganz konkret die Bayern an den Bruchweg kommen, dann wollen wir keineswegs den Anschein erwecken, dass wir die Guten und Braven sind, die keine Chance haben. Dann wollen wir auf dem Feld auch böse werden.“

Die Boshaftigkeit hilft. Nicht nur der drei Punkte wegen. Abseits des Feldes sind die Mainzer plötzlich „Everybody’s Darling“. Die Fußballwelt wundert sich, dass ein vermeintlicher Chaosklub kaum vier Wochen nach der Trennung vom Aufstiegstrainer die Bayern bezwingen kann.

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