Bundesliga | Gert Adolphi | 29.09.2021

Bis zum letzten Gong

IM PORTRÄT | Im Bundesligakampf gegen den Heilbronner Recep Topal begeisterte Viktor Lyzen am vorigen Samstag nicht nur die Fans des SV Alemannia Nackenheim. Der in Mainz aufgewachsene Ringer ist ein Kandidat für die Olympischen Spiele 2024 in Paris.
Lange sah es für Viktor Lyzen nach einer klaren Niederlage gegen Recep Topal aus, nach furioser Aufholjagd unterlag er nur aufgrund der höheren Wertung.
Lange sah es für Viktor Lyzen nach einer klaren Niederlage gegen Recep Topal aus, nach furioser Aufholjagd unterlag er nur aufgrund der höheren Wertung. | Peter H. Eisenhuth

Nackenheim. Es war der mitreißendste Kampf des Abends: Viktor Lyzen und Recep Topal brannten in der Bodenheimer Sporthalle am Guckenberg ein Feuerwerk an Griffen und Attacken ab. Insgesamt 20 Wertungspunkte standen am Ende zu Buche, für ein Duell in der Ringen-Bundesliga nahezu rekordverdächtig. Dazu kam die Dramatik: 3:10 hatte der Athlet des SV Alemannia Nackenheim bereits zurückgelegen, schaffte aber, lautstark angefeuert von den Fans, noch den Ausgleich.

Letztlich reichte es nicht zum Sieg, weil Topal eine höhere Wertung erzielt hatte, die beim Stand von 10:10 den Ausschlag gab. Nichtsdestotrotz sprach der Nackenheimer Cheftrainer Cengiz Cakici von einem „sensationellen Kampf“.

Dass Lyzen nach Rückschlägen nicht aufsteckt, hat er in seiner Karriere schon häufiger bewiesen. 2018 hatte er sich in Vorbereitung auf die U23-Weltmeisterschaften und kurz vor Beginn der Bundesligasaison im Training das Kreuzband gerissen. „Damit waren alle Planungen und Ziele für das Jahr gestrichen“, sagt der 24-Jährige.

Seit 2019 ein Alemanne

Doch er arbeitete weiter, ging täglich zur Reha und kehrte früher auf die Matte zurück als erwartet. Gegen ärztlichen Rat trat der Sportsoldat, der in Saarbrücken lebt und überwiegend trainiert, im Mai 2019 bei den Deutschen Meisterschaften in Riegelsberg an. Zuvor hatte er lediglich bei den Saarland-Meisterschaften zwei Kämpfe bestritten, in denen er aber nicht an seine Grenzen gehen musste.

„Ich wollte vor der eigenen Haustür ringen, deshalb hatte ich beschlossen, auf eigenes Risiko zu kämpfen“, erzählt er. Und Lyzen war erfolgreich: Er gewann die 61-Kilo-Klasse und holte sich den zweiten DM-Titel bei den Männern nach seinem Sieg im 57-Kilo-Limit zwei Jahre zuvor.

Ab Herbst des gleichen Jahres trat er für die Nackenheimer in der Bundesliga an und gewann in der Nordweststaffel auf Anhieb vier Kämpfe. „Aber erst in den Play-offs wusste ich, dass ich die Verletzung vollkommen überwunden hatte und physisch wie psychisch darüber hinweggekommen bin“, sagt er. Die Alemannen stießen bis ins Halbfinale vor, Lyzen blieb in der K.o.-Runde bei drei Einsätzen ungeschlagen.

„Tränen abwischen und weitermachen“

Sein Kampf gegen Topal am vorigen Samstag spiegelte in einigen Punkten die gesamte Begegnung der Alemannia gegen die Red Devils Heilbronn wider. Auch die Nackenheimer hatten nach einem hohen Rückstand noch eine Aufholjagd versucht, scheiterten allerdings deutlicher als Lyzen, dessen Kampf nur eines von mehreren knappen, für die Gastgeber unglücklich verlaufenden Duellen war. „Wir hätten ein Unentschieden rausholen können, aber wir haben die Kippkämpfe blöd verloren“, sagt er. „Da heißt es Tränen abwischen und weitermachen.“

Letztlich entscheidend bei seiner Niederlage war eine umstrittene Viererwertung, die Topal zu Beginn einstrich, als er einen Beinangriff des Nackenheimers konterte. „Topal ist ein Topmann, er kennt die Nuancen und Tricks“, sagt Lyzen. Dass der Heilbronner 2018 und 2019 EM-Bronze geholt hatte, wusste Lyzen zwar, doch er hatte es ausgeblendet, als er auf die Matte ging. „Es geht immer nur ums Gewinnen, alles andere stelle ich beiseite.“

Passiver Mattenleiter

Der 3:10-Rückstand war ihm ein zusätzlicher Ansporn, die Unterstützung der Fans tat ein Übriges. „Man spürt die Kraft und Energie, darüber höre ich nicht hinweg“, sagt Lyzen. Die Anfeuerung habe ihm geholfen, noch mehr Angriffe zu starten, aufzugeben war ohnehin keine Option – „ein Kampf sei erst zu Ende, wenn der letzte Gong ertönt“.

Der Nackenheimer glaubte daran, das Duell noch drehen zu können, und der Verlauf schien im Recht zu geben. Mit einem Takedown und einer Beinschraube kämpfte er sich auf 9:10 heran, gleichzeitig ging Topal sichtbar die Kraft aus. In dieser Situation hätte sich Lyzen gewünscht, dass Mattenleiter Claudio Bibbo eingreift. „Bei den Pausen, die mein Gegner eingelegt hat, hätte man ihn auch mit einer Passivitätsstrafe von zwei Punkten verwarnen können.“

Doch Bibbo blieb ebenfalls passiv, und Lyzen hatte nur noch zehn Sekunden, um die zwei zum Sieg fehlenden Zähler zu holen. Noch einmal sprang er zum Bein des Heilbronners, bekam den Fuß zu fassen, doch Topal schob sich auf den Händen aus der Kampfzone, wodurch er nur einen Punkt abgab. Ihm sei nicht bewusst gewesen, dass er eine Zweierwertung benötigte, räumte der Alemanne ein, unabhängig davon habe er jedoch versucht, das Maximum herauszuholen. Der clevere Topal rettete mit der Mattenflucht seinen knappen Sieg.

Vater Viktor rang für die Ukraine

Wenig verwunderlich ist, dass Lyzen in Nackenheim ringt, schließlich ist er nur ein paar Kilometer weiter aufgewachsen. Sein Vater, der ebenfalls Viktor heißt und für die ukrainische Nationalmannschaft gerungen hat, war 1996 nach Deutschland umgesiedelt und hatte die Familie zwei Jahre später nachgeholt. Nach kurzem Aufenthalt im Saarland ließen sich die Lyzens in Laubenheim nieder, wo sich der dortige Athleten-Club um sie kümmerte und ihnen die Aufenthaltserlaubnis besorgte.

Viktor junior ging früh mit dem Vater ins Training, machte zunächst die Gymnastik mit, lernte aber auch recht bald die ersten Griffe. Nach einem ersten Wechsel zur Alemannia und einem Intermezzo beim ASV Mainz 88 zog es den Nachwuchsmann ins Freiburger Sportinternat; auf die Matte ging er für den SV Triberg. Dem Schulabschluss folgte ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Sportschule Saarbrücken, nahtlos ging es in der Sportfördergruppe im Saarland weiter.

Samstagmorgenläufchen als Ritual

Erste internationale Erfolge stellten sich früh ein. 2015 wurde Lyzen Dritter bei den Junioren-Europameisterschaften, drei Jahre später Fünfter bei der U-23-EM. Außer in Saarbrücken trainiert Lyzen am Heidelberger Stützpunkt; pro Woche kommen an vier Tagen je zwei Einheiten zusammen, lediglich mittwochs belässt er es bei einer. Und selbst wenn samstags ein Bundesligakampf ansteht, bleibt er nicht untätig. „Ein morgendliches Läufchen ist mein Ritual.“

Als Mitglied des deutschen Nationalkaders ist Viktor Lyzen ein Kandidat für die Olympischen Spiele in Paris in drei Jahren. Sein schärfster Konkurrent ist der drei Jahre jüngere Nico Megerle vom ASV Urloffen. „Mit ihm streite ich mich um den Platz“, sagt der Nackenheimer – bislang mit Vorteilen: 2017 bezwang er Megerle im DM-Finale, zwei Jahre später im Halbfinale.

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