Parmesan und Partisan
Mainz. Sonntagmorgen, 6.30 Uhr. Wer jetzt in Mainz unterwegs ist, hat entweder kein Zuhause oder muss sein Auto umparken, bevor es abgeschleppt wird. Oder kommt vom Marathonsaufen, wie eine Gruppe Jugendlicher in der Augustinerstraße. Zum Marathonlauf will um diese Zeit noch niemand. Beinahe noch niemand. Tatsächlich sind in der Innenstadt schon vier frühe Vögel in Sportklamotten und mit Kleidersäcken zu sehen, wie sie später zu Tausenden im Rheingoldhallen-Parkhaus abgegeben werden. Wahrscheinlich nervös.
7.50 Uhr: „Oh, nein, da sinn se wieder“, klagte eine Bäckereifachverkäuferin zwischen Hopfengarten und Graben, als ein Lkw vorfährt. Wer ist da? „Die Musikanten vom vorigen Jahr. Ganz laut und ganz furchtbar.“
8.50 Uhr: Es ist frisch in den Straßen der Altstadt, die Wetter-App zeigt vier Grad Celsius. Der rothaarige Brite, der mit seiner kleinen Gruppe auf dem Weg zum Start ist, kennt diese App nicht. Oder er weiß nicht, was vier Grad Celsius sind – jedenfalls keine Temperatur für kurze Hosen und ein ärmelloses Laufshirt.
8.51 Uhr: Noch 39 Minuten bis zum Start, doch schon jetzt hat’s die Erste umgehauen. Ulrike Gerster liegt am Boden, aber niemand eilt zu Hilfe. Okay, es handelt sich auch nur um ein Plakat der CDU-Ortsvorsteherkandidatin Ulrike Gerster. Entwarnung.
8.54 Uhr: Gibt’s jetzt auch schon „Sundays for Future“? Der Marktplatz füllt sich mit Schülerinnen und Schülern. Keine Demonstranten, Staffelläufer. Auch klimafreundlich. Ihr Vorteil gegenüber allen, die in der Rheinstraße Aufstellung nehmen: Der Marktplatz ist sonnenüberflutet. Von wegen Schatten des Doms. Lustig: Einer der Knirpse tut, als hätte er Muskeln – er dehnt die Oberschenkel.
9.15 Uhr: Im Parkhaus herrscht ein Gewimmel und Gewusel. Läuferinnen und Läufer geben ihre Klamotten ab, suchen Bekannte, die in der Menge verlorengegangen sind, machen sich auf den Weg zu ihren Startabschnitten.
9.20 Uhr: Draußen stimmt Moderator Klaus Hafner die Menge auf den Start ein. Bei ihm stehen Oberbürgermeister Michael Ebling, Bürgermeister und Sportdezernent Günter Beck, Stadtwerke-Chef Daniel Gahr.
9.22 Uhr: Der Gruppe nähert sich ein bewaffneter Mann: Hakan Gümüs geht auf OB Ebling zu und packt eine Pistole aus. Damit soll der Stadtchef in…
9.23 Uhr: …sieben Minuten den Startschuss geben.
9.30 Uhr: Das macht er auch. Ohne Ladehemmung.
9.39 Uhr: Neun Minuten und fünf Sekunden dauert es, bis alle Läufer die Startmatten überquert haben, auf denen ihre persönliche Zeitmessung beginnt.
9.40 Uhr: Falsch: Staatstheaterintendant Markus Müller läuft erst jetzt los, für seinen Laufstil verdient er sich eine gute B-Note. „Ich bin gespannt, ob er nach 42 Kilometern noch genauso elegant ins Ziel läuft“, sagt Klaus Hafner.
Derweil die Läufer ihrer Wege ziehen, begrüßen Ebling und Beck, der schnell noch die Schüler-Ekiden-Staffeln auf die Strecke geschickt hat, Sponsoren und andere Ehrengäste beim Vip-Empfang in der Rheingoldhalle. „Der Gutenberg-Marathon ist ein Aushängeschild der Stadt Mainz“, sagt der Sportdezernent angesichts der zahlreichen Gäste von außerhalb, die eigens für diesen Tag in die Landeshauptstadt kommen.
Und er erinnert an die Diskussionen im Stadtrat über die Frage, ob es nach dem ersten Marathon im Gutenbergjahr 2000 einen zweiten geben solle. „Das Ergebnis lautete: ,Ihr dürft einen machen, wenn ihr ihn selbst finanziert.‘ Das haben wir jetzt 20 Jahre lang geschafft, und ich hoffe, dass noch einige folgen.“
10.35 Uhr: Halbmarathoni Selama Testamariam ist auf der Zielgeraden – und wählt zunächst die falsche Spur. Doch bevor er auf eine zweite Runde geht oder über das Gitter klettern muss, weist ein Ordner den Mann vom TV Alzey auf den rechten Weg. Gerade noch gutgegangen, denn nachdem Testamariam vor einem Jahr den Sieg verschenkt hatte, weil er sich 200 Meter zu früh im Ziel wähnte…
10.36 Uhr: …gewinnt er jetzt mit neuem Streckenrekord von 1:06:03 Stunde. Sechs Sekunden mehr Zeitverlust, und aus der Bestmarke wäre nichts geworden.
Es dauert einige Minuten, bis die besten Halbdistanzstarter eingelaufen sind, danach füllt sich der Zielraum schlagartig. Unter den Ankömmlingen ist Maral Feizbakhsh, einst eines der großen Leichtathletiktalente des USC Mainz und – dann schon für den TV Wattenscheid laufend – mit der deutschen 4x400-Meter-Staffel bei den Olympischen Spielen in London am Start. „Ich werde nie wieder sagen, 400 Meter seien hart“, japst sie nach ihrem ersten 21-Kilometer-Rennen. „Allein die Zielgerade zieht sich länger…“ 1:47 Stunde wollte sie laufen, „hat wohl nicht ganz geklappt“. 1:50:03 ist es geworden. Fürs Debüt und ohne echtes Training in Ordnung. Für eine gelernte Viertelmeilerin sowieso.
Dann läuft geballte ehemalige Weltklasse ein. Die einstigen Kunstrad-Weltmeisterinnen Lisa Hattemer und Nadja Thürmer, deren Schwester Julia ein paar Minuten später folgt. Für Nadja Thürmer ist es das zweite Mal, just for fun, aber der Spaß ist größer, wenn die Uhr vor der Zweistundenmarke stehenbleibt. Das ist der Fall. 1:54,09. Locker geschafft.
Nach und nach werden auch die Sanitäter gefordert. Einige Läuferinnen klappen kurz hinter der Ziellinie zusammen, eine knapp 20 Meter davor. Das ist dann doppeltes Pech.
Aus den Boxen dröhnt derweil „Bella Ciao“ – die aktuelle, gestampfte Version des 80 Jahre alten italienischen Partisanenlieds. Mit Marathon hat das zwar nur am Rande zu tun, aber angesichts des einen oder anderen Kollapses mag ein Vierzeiler des großen Frankfurter Kabarettisten Matthias Beltz die Klammer sein:
„Parmesan und Partisan, wo sind sie geblieben? / Partisan und Parmesan, alles wird zerrieben."
Von diesem Zustand weit entfernt ist Andreas Manthe. Der Kommunikationschef der Sparda-Bank sitzt entspannt im Vip-Raum und stärkt sich – nach seiner 16. Teilnahme am Gutenberg-Marathon. „Seit 2003 laufe ich mit“, erzählt er, „immer den Halben. Außer vor vier Jahren, da habe ich mir zum 50. Geburtstag mal die komplette Distanz gegönnt.“ Für Manthe (Bestmarke: 1:53) geht es weniger um Zeiten als um den guten Zweck. Insgesamt 98 Sparda-Mitarbeiter sind an diesem Tag unterwegs gewesen und zusammen 2407 Kilometer gelaufen, und pro Kilometer gehen zwei Euro an die „Herzenssache“ des SWR.
Traditionell bieten die Organisatoren den Läufern die Möglichkeit, sich nach dem Rennen (und nach dem Duschen!) professionell massieren zu lassen. Sechzig Schüler und neun Lehrer der Schule für Physiotherapie der Universitätsmedizin Mainz widmen sich den Beinen der Athleten. 350 bis 400 Massagen kommen zusammen, erzählt Karin Dannich, die stellvertretende Schulleiterin. Vor allem bei Amateurläufern komme das Angebot gut an. Beliebt ist auch die sogenannte Fußwerkstatt: „Die Läufer können bei uns ihre Füße, Haltung und Statik begutachten lassen, wie informieren sie, woher eventuelle Beschwerden kommen und geben ihnen Tipps, was sie dagegen tun können.“
12.30 Uhr: Für Frank Piontek, seit ewigen Zeiten Moderator mit Klaus Hafner, ist dies womöglich der schönste Moment des Tages. Eine Fotografin singt dem langjährigem Stadionsprecher des FC Schalke die Vereinshymne entgegen: „Königsblauer S04, königsblaues Schalke…“ Piontek ist gerührt.
14.33 Uhr: Durch die Augustinerstraße läuft noch eine einzelne Marathonteilnehmerin. „Am Graben“ spielt noch immer die „Bateria Infernal“. Die Bäckereifachverkäuferin muss noch 27 Minuten durchhalten.
Siehe auch:
Nach 30 Kilometern die Nase voll.
Sieg mit Streckenrekord nachgeholt.
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